Artikelbild Alter ist keine Krankheit

von Franz Kolland

Gesellschaftliche Herausforderungen für eine neue Kultur der Langzeitpflege

Je länger Menschen leben, desto stärker stellt sich die Frage, welche Bedeutung und welchen Stellenwert das Alter für die Gesellschaft und ganz allgemein für die menschliche Spezies hat.

Das Wort „Alter“ hat viele Bedeutungen, die sich je nach gesellschaftlichem und wissenschaftlichem Zusammenhang stark unterscheiden können. Das Geburtsdatum einer Person erweist sich dabei als sehr schlechter Schlüssel für die Beschreibung der Lebenssituation im Alter. Die häufig verwendete Angabe des kalendarischen Alters täuscht eine Vergleichbarkeit von Geburtsjahrgängen vor, die zwar statistischen Zwecken dient, aber kaum eine angemessene Beschreibung individueller Geschehnisse über den Lebenslauf und gesellschaftlicher Phänomene erlaubt.
Geht es um Fragen zu Pflege und Sorge alter Menschen, ist nicht nur das Kalenderdatum hinderlich, sondern auch jenes Bild vom Alter, das Gebrechlichkeit, Pflegebedürftigkeit und Tod zeigt, nichts Neues also. Auch im historischen Zusammenhang wird die Lebensphase Alter sehr oft mit Hinfälligkeit gleichgesetzt. Das Alter wird als Krankheit beschrieben und mit Arthritis, Blindheit oder Senilität verknüpft. Der österreichische Schriftsteller Jean Améry (1912–1978) bezeichnete in einem Essay (1968) das Altern sogar als „unheilbare Krankheit“ und möchte damit allen Hoffnungen des alternden Menschen entgegentreten. Warum ist das so? Eine an Jugendlichkeit, Leistungsfähigkeit und Aktivität orientierte Gesellschaft schiebt alte Menschen in die soziale Unsichtbarkeit – eine gewaltige Herausforderung für die Pflege im Alter. Nicht nur alte Menschen geraten in diesen Sog der Unsichtbarkeit, sondern mit ihnen auch jene Personen, die sich um sie kümmern. Thomas Klie hat das 2014 zu der Frage geführt: Wen kümmern die Alten?

Selbstbestimmung und soziale Teilhabe

Wir können dagegenhalten: Alter ist keine Krankheit. Erstens verbringen viele Menschen die Lebensphase Alter gesund und ohne physische, psychische oder soziale Beeinträchtigungen. Und zweitens geht es im Alter nicht um den Geburtstag, sondern um die Gesundheit. Genauer gesagt geht es um die funktionale Gesundheit, die wesentlich ist für Autonomie und selbständige Lebensführung. Gesundheit im Alter bedeutet nicht Abwesenheit von jeglicher Krankheit und Einschränkung. Sie zeigt sich vielmehr in der Aufrechterhaltung und in der Wiederherstellung von Selbständigkeit. Dabei ergeben sich aufgrund veränderter gesellschaftlicher Lebensbedingungen Möglichkeiten für neue biografische Entwürfe und neue Formen sozialer Beteiligung im Alter. Zu den Zielen gehören die Erhaltung und Stärkung der Autonomie und der gesundheitlichen Ressourcen, um das Fortschreiten bestehender Erkrankungen zu vermeiden und ein gelingendes Altern zu gewährleisten.
Für die Zukunft ergeben sich aus dem demographischen Wandel nicht nur neue Anforderungen an die professionelle Pflege, sondern auch an die gesellschaftliche Organisation der Pflege. Es braucht eine neue Kultur der Langzeitpflege, die sowohl familiales Handeln als auch das Pflegehandeln in Institutionen einbezieht. Eine neue Sorgekultur geht stärker von Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe des Individuums aus. Sie bleibt aber nicht dabei stehen und überlässt das Hilfe- und Pflegerisiko dem Individuum. Notwendig ist für eine neue Kultur der Langzeitpflege soziale Verantwortung. Damit gemeint ist, dass die Pflege weder ausschließlich der Familie noch Organisationen zuzumuten ist. Wir sehen neuerdings, dass alte Männer, die Pflegeaufgaben übernehmen und bei dieser Aufgabe allein gelassen werden, an diesen scheitern. Wir sehen aber auch, dass Institutionen wie Pflegeheime, wenn sie sehr stark von der sozialen Umwelt abgeschottet ihre Aufgaben erfüllen, zunehmend scheitern. Langzeitpflege muss als Social Caring begriffen werden, das in dazu bestimmten Sozialräumen stattfindet, die nicht als feindliche Außenwelt zu sehen sind, sondern als Orte sozialer Solidarität und Verantwortung. Die Langzeitpflege tut also gut daran, sich als sozialräumliches Geschehen zu verankern. Sowohl die Abschottung zu Hause als auch die Zugangsbarrieren zu Langzeitpflege in Institutionen sind gesellschaftlich kontraproduktiv und gehen an den Bedürfnissen von alten Menschen, die Pflege geben und brauchen, vorbei.

Zukunftsmodell „Sorgende Gesellschaft“

Mit einer sozialräumlichen Verortung der Pflege entsteht das, was wir für die Zukunft unbedingt brauchen, nämlich eine sorgende Gesellschaft, die das „Sich-Kümmern“ nicht abschiebt, sondern als gemeinschaftliches soziales Tun versteht. Das Ziel dabei ist Lebensqualität. Es geht um objektive und subjektive Gesundheit im Alter. Mag es auch merkwürdig klingen von Gesundheit im Alter zu sprechen, wenn es da und dort körperliche Einschränkungen gibt, so geht es gerade darum, die Gesundheit und eine positive Lebenseinstellung nicht aus dem Auge zu verlieren. In dieser Hinsicht spielen die Kompetenzen und Fähigkeiten aller Beteiligten eine wesentliche Rolle. Es geht nicht nur um die Kompetenz jener, die pflegen, sondern auch um die Kompetenzen jener, die gepflegt werden. Lebensqualität entsteht aus dem Zusammenspiel von professioneller Pflege, Angehörigen und Betroffenen. Darüber hinaus spielen umweltspezifische Aspekte eine Rolle, nämlich das Pflegesetting, die sozialen Interaktionen in der Pflege und die Pflegequalität. Der Akzent in der Bestimmung von Lebensqualität lag bisher eher auf einer Anpassung der pflegebedürftigen Person an eine als normal definierte Umwelt. Dieser Prozess war deutlich von einer Kultur bestimmt, die wir aus dem Krankenhaus kennen. Diese Kultur ist wenig brauchbar in der Langzeitpflege. Stationen in Pflegeheimen entsprechen nicht der Vorstellung von Wohnen. Die Gepflegten als Patient:innen zu bezeichnen ist ebenfalls wenig geeignet, ein „normales“ Wohnen – wenn auch mit Einschränkungen – zuzulassen. Mit dem Fokus auf Krankheit und den damit verbundenen Einschränkungen ist der Blick auf Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeiten verstellt. Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung der Pflege ist immer der Blick auf die beteiligten Personen, auf ihre subjektive Wahrnehmung. Diese ist wesentlich für ein gelingendes Altern auch unter Bedingungen von Gebrechlichkeit. Lebensqualität ist dialogisch-prozesshaft und kommunikativ anzulegen. Die Perspektive der Betroffenen, d.h. die subjektive Sichtweise pflegebedürftiger älterer Menschen, muss stärker in den Vordergrund rücken. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Demenz.

Pflege der Gesundheit

Bei Menschen in der Langzeitpflege sollten Begriffe wie „Patient:in“ oder „Versorgung“ nicht mehr verwendet werden. Sie deuten noch auf eine reparaturmedizinische Perspektive hin und nicht auf eine neue sozial-verortete Sorgekultur. Der sorgende Umgang mit pflegebedürftigen Menschen schließt Selbstsorge, Fürsorge, Vorsorge und Nachsorge ein, die im Kontext einer sorgenden Gemeinschaft oder auch Caring Community stattfinden. Neben den professionellen Pflegekräften braucht es (unterstützte) Angehörige, Freiwillige oder Nachbarn, die ohne Zeitdruck betreuen und begleiten. Damit entsteht eine sorgende Gemeinschaft in der Gemeinde oder im Quartier, die auch einschließt, dass pflegebedürftige Personen am Leben außerhalb ihrer Wohnung oder ihres Pflegeheimes teilhaben und teilnehmen können.
In der Pflege vollzieht sich derzeit eine Veränderung: weg vom bloßen Ausgleich pflegerischer Defizite und hin zur Steigerung von Ressourcen für pflegerisches Selbstmanagement und Prävention von Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit. Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen nehmen den Part der Gesundheitspflege zunehmend stärker wahr. So steigt der Stellenwert von Pflege in Gesundheitsförderung und Prävention. Angestrebt wird ein Denkwechsel, weg von der „Pflege der Krankheit“ zu einer „Pflege der Gesundheit“. Damit gemeint ist der Fokus auf die Ganzheitlichkeit des Menschen, auf den Menschen als eine ganzheitliche Persönlichkeit.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz Kolland
Karl Landsteiner Universität

 

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Name und Wohnort
Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz Kolland – Wien

Ich bin
Leiter des Kompetenzzentrums für Gerontologie und Gesundheitsforschung an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie.

Meine Expertise
habe ich im Feld der Alter(n)s- und Pflegebedarfsforschung.

Mit 80
werde ich mich mehr dem Schreiben zuwenden und weiter an einer neuen Kultur des Alter(n)s arbeiten.

Website
www.kl.ac.at/allgemeine-gesundheitsstudien/gerontologie

 

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