Artikelbild HeimAufG und COVID-19: präventive Zimmerisolierung bei Aufnahme aus Krankenanstalt

§§ 3, 4 HeimAufG

OGH 23. 6. 2021, 7 Ob 59/21h

Entsprechend einer Standard-Arbeitsanweisung (SOP) erklärte die zuständige Mitarbeiterin der Einrichtung der Bewohnerin, dass sie zehn Tage im Einzelzimmer bleiben müsse. (…)

Unabhängig davon, ob die Bewohnerin überhaupt in der Lage war, einen freien Willen zu bilden, wurde bei ihr im vorliegenden Fall durch das unmissverständliche Vermitteln, dass sie „jedenfalls“ im Zimmer bleiben muss, der Eindruck erweckt, dass sie sich dieser Vorgabe nicht entziehen kann, dass sie mit physischem Zwang rechnen muss, dies umso mehr, als ihrem von Anfang an klar erkennbaren Wunsch nach Kontakt, dh nach Beendigung der Isolation, beharrlich nicht entsprochen wurde. Wenn sie unter diesen Umständen nicht versuchte, sich physisch der Isolation zu widersetzen, kann dies nicht als Zustimmung zur Maßnahme ausgelegt werden. Ein etwaiger Wille der Bewohnerin, sich den an sie herangetragenen „jedenfalls“ einzuhaltenden und nach Ansicht des Leiters der Pflege auch durchzusetzenden Vorgaben zu unterwerfen, wäre unter diesen Umständen nicht ernstlich und frei von Zwang.

Es gab keine Indizien dafür, dass von der Bewohnerin eine über die von jedem Menschen ausgehende Gefahr der Ansteckung mit COVID-19 ausging. Auch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung der Bewohnerin und dem Risiko anderer Bewohner, von ihr mit COVID-19 infiziert zu werden, bestand nicht. Somit war die Freiheitsbeschränkung der Bewohnerin unzulässig. Daran ändert auch eine interne Richtlinie der Einrichtung, die nicht auf die konkreten Umstände abstellt, nichts.

[1] Die Bewohnerin leidet an Demenz und Parkinson. Im April 2020 zog sie sich bei einem Sturz zu Hause eine Tibiakopffraktur zu. Sie wurde am selben Tag stationär im Spital aufgenommen, wo ihr ein Oberschenkelgips angelegt wurde. Am Aufnahmetag und am 27. 4. 2020 wurden COVID-19-Tests veranlasst, die beide negativ ausfielen. Am 30. 4. 2020 wurde die Bewohnerin in das Sanatorium transferiert, wo am 6. 5. 2020 ein COVID-19-Test durchgeführt wurde, der wieder negativ ausfiel. Am 8. 5. 2020 wurde die Bewohnerin in der Einrichtung aufgenommen.

[2] Die Empfehlungen des BM für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu COVID-19-Schutzmaßnahmen für Pflege und Betreuung vom 9. 4. 2020 sehen vor, dass bei Verdachtsfällen bei Vorliegen eines negativen Testergebnisses die Isolationsmaßnahmen aufgehoben werden können.

[3] Nach einer in der Einrichtung zur Anwendung kommenden Standard Operating Procedure (SOP) aber sind „BewohnerInnen bei Aufnahmen präventiv trotz negativem SARS-COV-2-Testbefund einer Screening Isolation für mindestens zehn Tage zu unterziehen (im Einzelzimmer oder Doppelzimmer mit Einzelbelegung). (…) Nach acht Tagen ab Aufnahme hat ein erneuerter Abstrich (Nase und Rachen) und eine RD-PCR-Testung zu erfolgen. (…) Bei Vorliegen eines neuerlichen negativen Testbefundes auf SARS-COV-2 ist die Isolation aufzuheben und ein Transfer (auch in ein Mehrbettzimmer) möglich“. Im Zuge der Ausarbeitung der SOP wurde keine verpflichtende regelmäßige Testung der Mitarbeiter vorgesehen, sondern entschieden, diese zur Selbstbeobachtung aufzufordern. Für die Umsetzung der SOP in der Einrichtung ist deren ärztlicher Leiter zuständig. Seiner Ansicht nach sind im Notfall die Sicherheitsbehörden heranzuziehen, sollte ein Bewohner dem Ersuchen iZm einer Screening-Isolation nicht entsprechen. Die Stationsleiterin interpretierte die SOP derart, dass unabhängig davon, ob ein Wille wirksam gebildet werden könne, die Bewohner jedenfalls davon zu überzeugen seien, dass die Maßnahme der Screening-Isolation sinnvoll ist.

[4] Bereits am Tag des Einlangens in der Einrichtung wurde die Bewohnerin in einem Einzelzimmer isoliert. Die Stationsleiterin erklärte der Bewohnerin am 8. 5. 2020, dass sie aufgrund der nötigen Isolation für zehn Tage im Einzelzimmer verbleiben müsse und es wichtig sei, dass sie sich in den kommenden zehn Tagen in ihrem Zimmer aufhalte.

[5] Die Pflegemitarbeiter der Station haben von Anfang an bemerkt, dass die Bewohnerin deren Nähe braucht und wünscht. Am 10. 5. 2020 suchte eine Stationsärztin die Bewohnerin auf, nachdem ihr berichtet worden war, dass die Bewohnerin sehr unruhig sei und dauernd läute. Die Stationsärztin fand die Bewohnerin ratlos und verloren vor. Die Bewohnerin konnte ihr nicht erklären, warum sie läute. Sie fühlte sich besser, weil die Stationsärztin anwesend war und entschuldigte sich bei der Ärztin dafür, dass sie läutet und Umstände macht und klagte über Schmerzen an ihrem Bein. Bei der Bewohnerin lag ein Transferierungsstress vor. Ohne Vorliegen der COVID-19-Pandemie hätte die Stationsärztin vorgeschlagen, die Bewohnerin in den Tagraum zu schieben.

[6] Die Kontaktisolierung im Zimmer wurde ab dem Aufnahmetag über einen Zeitraum von zehn Tagen durchgeführt. Während der Isolation wurde die Bewohnerin nie zu den anderen Bewohnern gebracht. Bei der Bewohnerin zeigten sich durchgehend (dokumentierte) Gefühle von Einsamkeit (sie betätigte laufend die Rufanlage), Angst, agitiertes Verhalten (Schreien) und sichtlich eine Zunahme von Schmerzen (zB als Somatisierung). „In dieser für sie verunsichernden Umgebung war die Bewohnerin am Verlassen des Zimmers gehindert.“

[7] Am 19. 5. 2020 wurde die Bewohnerin nach einem am 18. 5. 2020 vorgenommenen negativen COVID-19-Test in den Tagraum zu den Mitbewohnern gebracht.

[8] Die Isolierung im Einzelzimmer wurde an den Verein nicht gemeldet. Am 11. 5. 2020 erfolgte eine Meldung an den Verein über die Dauermedikation mit Quetiapin und Lorazepam seit 10. 5. 2020. Aus dieser Meldung geht die Diagnose „dementielle Entwicklung DD delirante Entwicklung“ hervor. Weiters ist vermerkt: „Pat. mit vorbekannten neurokognitiven Defiziten wurde vor wenigen Tagen h.o. stationär aufgenommen. Aufgrund d. Isolation (Quarantäne-Maßnahme I.R.d. Corona) ist die Patientin ängstlich, unruhig, verloren, Transferierungsstress, Anpassungsstörung.“

[9] Es gab keine Indizien dafür, dass von der Bewohnerin eine Gefahr der Keimverschleppung mit COVID-19 über die Gefahr, die von jedem Menschen ausgeht, ausging. Aufgrund der drei Negativtests war das Risiko einer Keimverschleppung durch die Bewohnerin „mehr als unerheblich niedriger“. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der psychischen Erkrankung der Bewohnerin und dem Risiko anderer Bewohner, von ihr mit COVID-19 infiziert zu werden, besteht nicht.

[10] Der Verein beantragte die Überprüfung der an der Bewohnerin vorgenommenen Freiheitsbeschränkung vom 8. bis zum 18. 5. 2020 durch Isolierung in einem Einzelzimmer. Die Freiheitsbeschränkung sei wegen Verletzung der Dokumentations¬pflicht sowie mangels ernstlicher und erheblicher Fremdgefährdung unzulässig und auch nicht verhältnismäßig gewesen.

Lesen Sie weiter in der iFamZ 5/2021: www.lindeverlag.at/ifamz

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