Artikelbild Alter und Gewalt Broschüren und das Pro Senectute Beratungstelefon

von Bettina Bogner-Lipp

Pro Senectute Österreich hat mit der Broschüre „Gewalt und Alter“ (erhältlich mit Anlaufstellen in OÖ oder in NÖ) eine informative und ermutigende „Erste Hilfe“ für Betroffene ältere und alte Menschen, Angehörige und aufmerksame Mitmenschen herausgegeben.

Das Pro Senectute Beratungstelefon „Gewalt und Alter“ bietet kostenlose und vertrauliche Beratungsgespräche für alle, die sich bedrängt, bedroht, vernachlässigt, verletzt oder auf andere Weise von Gewalt betroffen oder unsicher fühlen, weiters für Menschen, die selbst befürchten, die Grenze zur Gewalt zu überschreiten sowie für jene, die Informationen benötigen.
Das Beratungstelefon ist von Montag bis Freitag  von 8 bis 13 Uhr und Mittwoch von 15-20 Uhr unter der Telefonnummer 0699 11 2000 99 persönlich erreichbar. Außerhalb dieser Zeiten kann ein Rückruf erfolgen.

Gewalt ist ein starkes Wort. Es löst Assoziationen mit Beherrschung und Verletzung bis hin zur Tötung aus und lässt in der Folge an Straftatbestände und gesellschaftliche Stigmatisierung denken. Die Scham, in welcher Weise auch immer in einen Gewaltvorfall involviert zu sein und die befürchtete Nähe zur Kriminalität fördern das Schweigen über erlebte, vermutete, beobachtete oder selbst ausgeübte Gewalt. Dass dieses „starke Wort“ auch fernab der Straftat Gültigkeit für oft unbewusste Fehl(be)handlungen besitzt, dringt erst allmählich ins Bewusstsein der Pflegenden und Betreuenden, wie auch der davon Betroffenen. Auch grobes Anfassen beim Umlagern in der Pflege, verbale Respektlosigkeiten gegen Pflegebedürftige, erzwungene Änderung von Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten, Abnehmen der finanziellen Angelegenheiten ohne Zustimmung, Drohen mit dem Umzug ins Pflegeheim, Unterbinden sozialer Kontakte etc. sind Ausdrucksformen von Gewalt.

Diesen liegen häufig über Jahrzehnte hin manifestierte Miss- und Schiefstände innerhalb von ehelichen und familiären Beziehungen zugrunde, nicht selten begleitet von Einsamkeit, Isolation, psychischer Erkrankung, prekären Verhältnissen und/oder Überforderung mit der Betreuung und Pflege von Angehörigen. Die Grenzen zwischen Opfer und TäterInnen sind in vielen Fällen nicht klar zu ziehen und stehen auch nicht im Mittelpunkt der Beratungsgespräche, vielmehr die Entlastung und das gemeinsame, behutsame Sortieren und Suchen von Lösungswegen.
 
Das Auftreten von Gewalt – sei es emotionaler, physischer, finanzieller oder sexueller Natur - ist immer ein Zeichen dafür, dass eine Grenze überschritten wurde. Die Erfahrung beim Pro Senectute Beratungstelefon zeigt, dass bei den meisten Fällen von Gewalt gegen Ältere einem Anruf ein langer Leidensweg vorausgeht.  Die Betroffenen fragen sich oft, ob das Erlebte „noch normal“ oder „schon Gewalt ist“. Es braucht meist ein krisenhaftes Ereignis, ehe der erste Schritt in Richtung Inanspruchnahme von Hilfe gewagt wird.

Dieser Umstand ist verantwortlich dafür, dass nur ein Bruchteil von Gewalttaten ans Licht gelangt, besprochen und gelöst werden kann. Die Folgen sind dann oft schon schwerwiegend und in der politischen wie öffentlichen Diskussion wird immer wieder die Frage gestellt: wie hätte das verhindert werden können? Sowohl auf der Ebene der kulturellen, wie auch jener der strukturellen Gewalt ist hier ein umfassendes Umdenken notwendig, um bereits den Anfängen von Diskriminierung und Vernachlässigung von älteren und alten Menschen entgegenzuwirken.

Um diese Feststellung nur beispielhaft zu illustrieren, ist es in unserer Gesellschaft noch längst keine Selbstverständlichkeit, alte Menschen ohne und vor allem mit Demenz durch das Schaffen von Begegnungsräumen zwischen Jung und Alt oder durch Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe in die Mitte zu nehmen. Somit werden auch pflegende Angehörige in eine Isolation gedrängt, welche wiederum ein Klima von Gewalt fördert. An ökonomisierbare Leistungen geknüpfte Werthaltungen prägen weithin das Menschenbild. Im Pflegeberuf und in der häuslichen Pflege, wo die Messinstrumente für „Erfolg“ auch angesichts der naturgemäß fortschreitenden „Verluste“ an Fähigkeiten bei den Betreuten fehlen, führt dieses gesellschaftliche Leitbild dazu, dass die menschenwürdigen Faktoren „Zeit“, „Wertschätzung“, „Empathie“ und „Akzeptanz“ stets in einer Verteidigungshaltung gegenüber der Effizienz bleiben. Die regelhaft standardisierten Abläufe in größeren Pflegeinstitutionen lassen zudem wenig Möglichkeiten für die Wahrung und Pflege von Individualität und Stärkung der Identität der alten Menschen. Auf diese Weise wird menschlichen Grundbedürfnissen – auch dies ist Gewalt – zu wenig Raum zuerkannt.  Die nicht zuletzt coronabedingte Fokussierung der medialen Aufmerksamkeit auf den Pflegeberuf lässt Hoffnung auf eine Änderung der herrschenden Direktiven zu. Vorträge und Workshops, Kampagnen und Medienpräsenz – teils auch durch Pro Senectute vertreten – mögen diesen Prozess unterstützen.

Das besondere Engagement von Pro Senectute – des Vereins für das Alter, gilt jedoch der personalen Ebene von Gewalt, der direkten Beratung und Hilfestellung von Mensch zu Mensch.
Bei den Beratungstelefonaten steht die Erfassung der Komplexität an einflussnehmenden Faktoren – von Demenz bzw. Multimorbidität bis zur emotionalen oder wirtschaftlichen Abhängigkeit - und der Vielzahl an beteiligten Menschen aus dem nahen Umfeld und dem professionellen Bereich im Vordergrund. Nur alle zusammen können wirksam unterstützen. Die weitreichende und niederschwelligere Vernetzung von fallrelevanten Institutionen und Personen zugunsten einer oft so notwendigen raschen Intervention ist ein großes Anliegen von Pro Senectute. Gewalt gegen Ältere früher erkennen und rascher handeln sind die Ziele der vorgestellten Broschüren und des Beratungstelefons.

Niederschwellig, auf Augenhöhe, empathisch, ermutigend und informativ bietet das Beratungstelefon das Gespräch über Gewalt in ihren vielfältigen Formen an. In einem angstfreien, geschützten Raum können sich die Betroffenen ohne Zeitlimit aussprechen, werden ernst genommen und auf mögliche Lösungswege hingeführt. Das Gespräch über
Gewalt ist der Schlüssel zur Sensibilisierung und somit eine frühzeitige Präventionsmaßnahme für das Thema. Eine Sprache zu finden, die nicht abschreckt und stigmatisiert, sondern öffnet und hilft, ist notwendig, um die alltäglich geschehende und allzuoft aus Angst und Scham tolerierte Gewalt ohne Fingerzeig ins Bewusstsein zu bringen. Denn Gewalt ist nie eine Lösung.

Beispiele aus Beratungstelefonaten:
Wir sind seit über 50 Jahren verheiratet und ich habe die Tyrannei meines Mannes immer weggesteckt, aber jetzt kann ich nicht mehr. Es wird immer schlimmer. “
„Mein Stiefvater verhindert den Kontakt zwischen meiner Mutter und mir. Das Mobiltelefon hat er ihr weggenommen. Ich befürchte, dass er sie unterdrückt.“
„Mein arbeitsloser Bruder wohnt bei unserer Mutter und nimmt ihr den letzten Cent weg.“
„Mein Vater verbietet der 24h-Betreuung, das Essen für die nach einem Schlaganfall beeinträchtigte Mutter zu pürieren und wirft die Medikamente weg.“
„Ich habe beobachtet, wie eine Kollegin aus der Pflege eine Heimbewohnerin ins Bett gestoßen hat, weil diese abends immer wieder aufstehen wollte.“
„Seit mein Mann Demenz hat, behandelt er mich wie den letzten Dreck.“
„Die im selben Haus lebende Schwiegertochter meiner Großmutter verhält sich so kaltherzig, dass sich meine Oma nicht einmal mehr in den Garten zu gehen getraut.“

Gewalt & Alter Broschüre NÖ  
Gewalt & Alter Broschüre OÖ

Die Broschüren sind unter Angabe der gewünschten Stückzahl und Adresse erhältlich bei Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Bettina Bogner-Lipp, MA
(Gerontologie)
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0043 650 46 10 560

Illustrationen: Helga Lohninger
 

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