Artikelbild Lebensqualität duldet keinen Aufschub

von Sabine Wimmer

Covid-19 ist die erste globale Pandemie seit mehr als 100 Jahren. Die Ausbreitung des Virus stellt damit Gesundheitssysteme weltweit auf den Prüfstand. Besonders fordernd ist die Krise für Alten- und Pflegeheime, denn hier trifft der Schutz vor dem Virus auf das Thema Menschlichkeit.

Die Wahrnehmung von Stimmungen und Emotionen muss täglich mit aktuellen Infektionszahlen in Einklang gebracht werden. Auch Sabine Wimmer war und ist mit dieser Herausforderung täglich konfrontiert. Mit viel Mut und Feingefühl hat die erfahrene Krankenpflegerin und Pflegedienstleiterin im oberösterreichischen Bezirksalten- und Pflegeheim Sierning nicht nur rasch neue Arbeitsprozesse und Hygienemaßnahmen eingeführt, sondern vor allem auch den Menschen den Rücken gestärkt. Denn das Thema Lebensqualität liegt in ihrem mit dem Nationalen Qualitätszertifikat (NQZ) ausgezeichneten Haus stets im Fokus jedes Handelns – und das nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch für die Angehörigen und das gesamte Team. Wie das bisher gelungen ist und mit welchen Höhen und Tiefen Alten- und Pflegeheime in dieser herausfordernden Zeit konfrontiert werden, erzählt Sabine Wimmer in einem ganz persönlichen Praxisbericht.

Anfang März 2020 änderte es unser aller Leben – das Corona-Virus. Mit einem Schlag war nichts mehr, wie es war. Mit einem Schlag befanden wir uns mitten in einer Pandemie. Eine Flut an Informationen überrollte uns und innerhalb weniger Tage war klar, dass wir es mit einem hochansteckenden Virus zu tun hatten, das für die Personengruppe ab 65 besonders bedrohliche Auswirkungen haben kann. Die Schließung der Alten- und Pflegeheime wurde als unverzichtbar eingestuft und wir wussten, dass wir keine Zeit verlieren durften. So beschlossen wir einen Tag nach der Schließung unseres Hauses, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Rasch trafen wir sämtliche Hygiene-Vorkehrungen, um im Falle einer Infektion schnell und professionell reagieren zu können. Die folgenden Lieferengpässe und wochenlangen Lieferpausen von Desinfektionsmitteln, Schutzkitteln, Handschuhen und Masken nagten an unseren Nerven, denn warten war keine Option. Folglich wurden Stoffmasken angefertigt und sämtliche Vorräte zusammengetragen, dank der wir die notwendige Hygiene trotz allem angemessen bewerkstelligen konnten.

Die neue Normalität
Keine gemeinsamen Pausen, kein Wechsel der Wohnbereiche, keine Dienstbesprechungen: Neue Regeln erschufen eine neue Normalität. Tägliche „Corona-Berichte“ die vor Dienstbeginn gelesen und teilweise unterzeichnet werden mussten, schafften vor allem zu Beginn der Pandemie Abhilfe. Laufende Hygienemaßnahmen und potentielle Fehler wurden so umgehend thematisiert und behoben – aber auch Motivation zum Durchhalten, Lob, Dank und Anerkennung wurden übermittelt. Die Ungewissheit im Haus war dennoch allgegenwärtig zu spüren, was sich zwangsläufig auf die Bewohnerinnen und Bewohner auswirkte. Obwohl die Pflege gut zu laufen schien, mussten wir feststellen, dass mehrere Pflegebedürftige Druckstellen (Decubiti) aufwiesen. Unsere Kinaesthetics-Trainerin fand heraus, dass die Bewohnerinnen und Bewohner körperlich angespannt waren und ihr Gewicht nicht richtig abgaben – sie spürten den Stress der Umgebung. Um diesen zu reduzieren, sprachen wir die Situation im Team an. Wir hinterfragten, was die Krise mit uns macht, wie wir mit Ängsten umgehen und unsere Stärken und Fähigkeiten in dieser herausfordernden Zeit weiterentwickeln könnten. Parallel dazu optimierten wir die Positionierungen der Bewohnerinnen und Bewohner. Innerhalb von zwei Wochen heilten alle Decubiti wieder ab.

Mit Beginn der Pandemie änderte sich somit nicht nur unser Leben, sondern auch das der Bewohnerinnen und Bewohner abrupt. Das gemeinschaftliche Dasein wurde unterbrochen. Allerdings war der Abstand halten aufgrund von Sehschwächen, vermindertem Hörvermögen und kognitiven Einschränkungen nur schwer möglich. Anordnungen wie „Nehmen Sie Ihre Mahlzeiten bitte im Zimmer ein!“ oder „Verlassen Sie das Zimmer nur, wenn die Gänge und Wohnbereiche leer sind!“ störten die gewohnten Abläufe. Das Leben der Menschen mit Demenz änderte sich hingegen nur wenig. Die Krankheit macht das Erleben der Gefahr der Pandemie unmöglich und so überließen wir ihnen quasi unser Haus, sie konnten sich wie immer frei bewegen. Die Nähe der Familienangehörigen fehlte jedoch und es entstand für alle eine seltsame, ungewohnte Ruhe.

Unser oberstes Ziel war es, die Lebensqualität trotz aller Einschränkungen möglichst hochzuhalten – denn diese duldet keinen Aufschub. Bei den ersten warmen Sonnenstrahlen hieß es also Türen auf, Tische raus, die Luft spüren und in die Normalität zurückkehren. Mit der Grundregel ausreichend Abstand zu halten, gab es Begegnungen im Freien. Weniger mobile Bewohnerinnen und Bewohner freuten sich, Angehörige durchs offene Fenster zu sehen. So konnten wir Treffen ermöglichen, die erwünschte Nähe aber leider nicht.

Die Zahlen steigen wieder an
Nach einem annehmlichen Sommer stellte uns der Jahreszeitenwechsel vor neue Herausforderungen: Virale Infektionen mischten sich mit Covid-Infektionen. Zum Schutz aller stiegen wir Anfang Oktober 2020 auf FFP2 Masken um. Zu diesem Zeitpunkt waren es bereits neun Monate, die von Distanz geprägt waren. Die Situation war vor allem für Pflegekräfte und deren Familien äußerst beschwerlich. Das eigene Zuhause, der sonst so wohltuende Rückzugsort, wurde plötzlich zur „Gefahrenzone“. Das Zusammenleben mit Kindern, die in die Schule gingen, Ehepartnerinnen und Ehepartnern, die mit Arbeitskolleginnen und -kollegen zusammentrafen, wurde zur Herausforderung. Rund um die Uhr aufpassen, auf der Hut vor dem Virus sein – eine grenzgängerische Belastungsprobe.

Auch für die Visiten von Ärztinnen und Ärzten mussten neue Umgangsformen gefunden worden. Um Ansteckungen zu vermeiden, versuchten wir, diese telefonisch, unterstützt von Fotodokumentationen, durchzuführen. Noch mehr Sorgen bereiteten uns allerdings notwendige Krankenhaus- oder Ambulanzbesuche der Bewohnerinnen und Bewohner. Anfangs mussten wir verhandeln, dass diese nur mit negativen PCR-Tests zurückkommen durften. Dies wurde aber schnell zur Routine.

Obwohl die Hygienemaßnahmen fortwährend strenger, konsequenter und professioneller durchgeführt wurden, infizierten sich im zweiten Lockdown schließlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es folgte eine Achterbahn-Fahrt der Gefühle. In unglaublich engen Abständen ging es steil bergauf und genauso steil wieder bergab. Um handlungsfähig bleiben und die Pflege aufrecht erhalten zu können, definierten wir für alle Teams klare Prioritäten. Denn was wir auch taten, das Virus war unser ständiger Begleiter.

Das Virus ist außer Kontrolle
Ende Oktober 2020 stieg die Zahl der infizierten Menschen in unserem Bezirk schließlich um das Siebenfache und auch mehrere Bewohnerinnen und Bewohner erkrankten an Covid-19. So schnell wie sich das Virus verbreitete, verschlechterte sich auch der Allgemeinzustand der Betroffenen. Ein Bewohner, der vor zwei Stunden noch fröhlich sang, war plötzlich tot.

Aber es gab auch Lichtblicke. Eine Bewohnerin zog im Sommer in unser Haus ein, weil sie im Krankenhaus als „austherapiert“ galt. Unser Ziel war es, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und eine gute Zeit zu ermöglichen. Wider Erwarten erholte sie sich und überstand im Herbst sogar eine Covid-19-Infektion. Ihre letzten Laborwerte waren erstaunlich gut. Das sind jene Geschichten, die uns darin bestärken, am Leben festzuhalten, niemals aufzugeben und jeden Tag aus dem Vollen zu schöpfen.

Gemeinsam alleine
Doch nicht nur das Virus, auch die Einsamkeit zehrte an den Kräften unserer Bewohnerinnen und Bewohner. Eine teilselbstständige Bewohnerin traf ihren Mann während des Lockdowns täglich im Freien – dennoch fehlte ihr seine Nähe. Sie fühlte sich eingesperrt, bedrückt, bedroht, gestresst. Mit intensiven Gesprächen konnten wir sie entlasten. Die Anerkennung ihrer Bedürfnisse tat ihr gut. Die Einsamkeit der alten Menschen betrifft somit auch die Pflegerinnen und Pfleger. Denn die dringend benötigte Nähe kommt nicht mit Familienangehörigen, sondern mit dem Personal zustande. Die tägliche Körperpflege, die Eingabe von Mahlzeiten und die Zeit für Gespräche schafft Verbundenheit. Wir ersetzen keine nahen Angehörigen, aber wir sind da. In jeder Lebenslage – auch bis zum letzten Atemzug.

Was am Ende zählt
Jeder Mensch sollte das Recht auf eine gute palliative Begleitung haben, ganz gleich, welche Situation vorherrscht. Diese stellte jedoch eine besondere Herausforderung dar – vor allem für die Angehörigen. Traurige Momente sind in Erinnerung, aber auch sehr berührende. Ein letzter Besuch, ein letztes Mal die Hand halten, letzte sehr innige Worte. Eine Mutter winkt ihrer Tochter zu und verabschiedet sich. Die Kostbarkeit dieser Momente war unmittelbar spürbar.

Ein Bewohner, der müde war und immer weniger Kraft zu leben hatte, wartete so lange auf seine Gattin, bis Besuche wieder möglich waren. Sein Zustand verschlechtere sich zunehmend und die Begleitung strengte seine Frau physisch und psychisch an. Erleichtert nahm sie den Vorschlag an, nur jeden zweiten Tag zu kommen. Als sie sich eines Tages schließlich von ihm verabschiedet hatte, ermutigte sie eine Pflegerin noch eine Stunde zu bleiben. In dieser Stunde verließ ihr Mann ruhig und friedlich die Welt. Sie war dabei, und dafür war sie unglaublich dankbar.

So geben wir stets unser Bestes, auch unter „Corona-Bedingungen“ echte Nähe zu ermöglichen. Je nach Situation gilt es das individuelle Risiko abzuschätzen und mutige, aber notwendige Entscheidungen zu treffen. Damit Menschen gut leben und Familien zusammensein sein können. Denn das ist es, was am Ende zählt.

Blick in die Zukunft
Mittlerweile haben wir uns an die neue Realität gewöhnt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass wir uns seit Monaten im Kontrollmodus befinden. Fragen wie „Habe ich meine Maske gut auf?“, „Halte ich genügend Abstand?“, „Gibt es ausreichend Frischluft?“ beschäftigen uns rund um die Uhr. Was wir jetzt machen können? Wir können uns impfen lassen. Ich habe es bereits getan. Mit der Impfung ist unmittelbar eine Last von mir abgefallen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dies der Weg ist, der uns aus der Pandemie führt. Allerdings sind noch nicht alle Menschen bereit, diesen Schritt zu tun – das sollten wir respektieren. In der Zwischenzeit braucht es effektive Lösungsansätze, denn ein nahes Ende der Pandemie ist noch nicht in Sicht. Bis dahin können wir vermutlich nur eines tun: testen, testen, testen!

Sabine Wimmer
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin Sabine Wimmer (57) ist seit 2005 Leiterin des Betreuungs- und Pflegedienstes im Bezirksalten- und Pflegeheim Sierning in Oberösterreich. Als ausgebildete Mediatorin im Gesundheits- und Sozialbereich sowie Zertifiziererin für das Nationale Qualitätszertifikat für Alten- und Pflegeheime (NQZ) ist sie Expertin auf dem Gebiet der Qualitätsentwicklung in Gesundheitseinrichtungen.

                                       

DRUCK/PDF

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.