Artikelbild Jakob Kabas, MAS MBA

Lebensqualität ist kein Würfelspiel

Seit Oktober 1999 ist Jakob Kabas Geschäftsführer des Sozialhilfeverbandes Liezen und in dieser Funktion für die sieben Altenpflegeeinrichtungen des Verbandes und damit für insgesamt 426 Betreuungsplätze und mehr als 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Jetzt wurde er zum Vorsitzenden des Vereins zur Förderung der Qualität in der Betreuung älterer Menschen gewählt. Uns verrät der ausgebildete Hospizbegleiter und Zertifizierer für das Nationale Qualitätszertifikat für Alten- und Pflegeheime (NQZ), wo aktuell die größten Herausforderungen und ungenutzten Potentiale in der Pflege und Betreuung älterer Menschen liegen und welche Ziele er in Bezug auf das Thema Lebensqualität verfolgt und künftig umsetzen möchte.


Lebenswelt Heim: Lieber Herr Kabas, Sie wurden kürzlich zum neuen Vorsitzenden des Vereins zur Förderung der Qualität in der Betreuung älterer Menschen bestellt. Was haben Sie sich für diese neue Funktion vorgenommen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Wie auch in vielen anderen Lebensbereichen taktet aktuell die Pandemie unseren Alltag. Es ist gerade vor dem Hintergrund der Pflegereform wichtig, über diese Begrenzungen hinauszudenken und auch die Rahmenbedingungen, unter denen ältere Menschen gepflegt und betreut werden wollen, mit dem Wissen aus dem vergangenen Jahr zu optimieren. Für den Verein bedeutet das eine zeitgemäße Anpassung eines in die Jahre gekommenen Modells, wie auch die Erreichung von Breitenwirkung im Qualitätsdenken und –handeln.

Lebenswelt Heim: Das Thema Lebensqualität steht in Ihrem Arbeitsumfeld stets im Fokus jeden Handelns. Was bedeutet Lebensqualität für Sie in diesem Zusammenhang?
Jakob Kabas, MAS MBA: Lebensqualität ist kein Würfelspiel. Es geht aber dennoch darum, für eine aus verschiedenen Beweggründen „zusammengewürfelte“ Gruppe von betreuten und zu betreuenden Menschen – aus der Abfolge von Planbarem, Steuerbarem, Veränderbarem, aber auch Zufälligem – ein tägliches Miteinander in hoher Qualität und Würde zu ermöglichen. Das NQZ steht in diesem Kontext für ausge-zeichnete Lebensqualität und schaut dabei auf die Regeln, Abläufe, Werte und Wirkungen für dieses Miteinander.  

Lebenswelt Heim: Welche Maßnahmen zur Steigerung der Lebensqualität von pflegebedürftigen bzw. älteren Menschen möchten Sie in der nahen Zukunft gerne umsetzen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Die deutsche Schriftstellerin Inge Jens stellt sich in ihrer Biografie in der Betreuung ihres dementer werdenden Mannes Walter die Frage, ob sie ihm mit ihrer Interpretation seines Zustandes eigentlich in Wahrheit Gewalt antue und ob sie sich nicht häufiger mehr nach ihren Plänen mit ihm richte, als sich nach seinen Wünschen zu orientieren.  Wir sind in der Pflege und Betreuung wie Inge Jens von Anfang an herausgefordert, in unserem Planen und Überlegen von Maßnahmen auch hineinzuspüren, ob unsere Vermutungen über Betroffenheiten nicht Zumutungen für die Betroffenen sind.

Lebenswelt Heim: Sie sind selbst seit sechs Jahren als NQZ-Zertifizierer tätig. Welche Erfahrungen und Fähigkeiten können Sie für die Umsetzung Ihrer Ziele in Ihrer neuen Funktion als Vereinsvorsitzender nutzen bzw. welche kommen Ihnen zugute?
Jakob Kabas, MAS MBA: Was ich an der Tätigkeit als Zertifizierer immer sehr geschätzt habe, war die Ermöglichung eines Blickes über den eigenen Tellerrand. Dieser fand sowohl durch den fachlichen wie menschlichen bundesländerübergreifenden Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, als auch durch die Zusammenarbeit mit anderen Zertifiziererinnen und Zertifizierern sowie den Teams der besuchten Einrichtungen vor Ort statt. Da relevante Parameter in der Pflege in den Bundesländern teilweise nach wie vor deutlich auseinanderdriften, ist es aus meiner Sicht essentiell, das gesamte Branchenwissen künftig noch besser zu bündeln und im Sinne der Lebensqualität für die uns anvertrauten Menschen einzusetzen.

Lebenswelt Heim: In welchen Bereichen der Pflege und Betreuung älterer Menschen liegt Ihrer Meinung nach noch ungenutztes Potential?
Jakob Kabas, MAS MBA: Der amerikanische Architekt Louis Sullivan sagte einmal: „So wie du bist, so sind auch deine Gebäude.“ Angewandt auf die Pflege und Betreuung älterer Menschen kann das bedeuten: So wie wir Alter und Pflegebedürftigkeit sehen, so sind unsere Gebäude, die Gedankengebäude und jene, die wir zur Betreuung und Pflege älterer Menschen errichten. Sind wir weit, raumgebend und licht-durchflutet, werden es auch die Rahmenbedingungen sein, die wir schaffen. So können wir uns in der Strukturqualität fragen, welche Innen- und Außenarchitektur bedürfnisorientiert, arbeitssicher und pandemietauglich – also nicht Behausung, sondern Beherbergung – ist.

Lebenswelt Heim: Wo liegen aus Ihrer Sicht aktuell die größten Herausforderungen in der Pflege und Betreuung älterer Menschen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Die größte Herausforderung sehe ich in der Frage, ob wir mittel- und langfristig quantitativ wie qualitativ ausreichend Personal haben werden, das Menschen, die in der Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit leben und alt werden wollen, würdevoll wie professionell betreut. Im Blick auf diese Frage brauchen wir Rahmenbedingungen, die den Beschäftigten in diesem Bereich berufliches Wachstum ermöglichen, finanzielle und rechtliche Sicherheit geben und angemessene Wertschätzung schenken.

Lebenswelt Heim: Welche Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach die Pflege bzw. Betreuung älterer Menschen in Corona-Zeiten noch vereinfachen bzw. verbessern? Worin liegen aktuell etwaige Schwachstellen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Was wir auch über den Bundesverband unermüdlich seit Beginn der Pandemie eingefordert haben, war mehr Verbindlichkeit in den Aussagen, Maßnahmen und Vorgaben. Als politisch Verantwortlicher stand der Gesundheitsminister hier vor zwei großen Herausforderungen: Einerseits steigt mit der zunehmenden Komplexität und Dynamik von Ereignissen wie einer Pandemie auch die Instabilität von Sicherheit, und andererseits verhindert die Heterogenität im rechtlichen wie inhaltlichen Verständnis von Pflege in unserem Land – bedingt auch durch die föderale Struktur – das Schaffen von Verbindlichkeit. Um diese Herausforderungen meistern und eine Pflegereform erfolgreich in Angriff nehmen zu können, ist es essentiell, in der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Län-dern flexibel zu bleiben. Hier bereits im Vorfeld fixe Bedingungen festzulegen, halte ich für kontraproduktiv.

Lebenswelt Heim: Was funktioniert in der Pflege bzw. Betreuung älterer Menschen bereits sehr gut, worauf sind Sie stolz?
Jakob Kabas, MAS MBA: Ich bin stolz, dass die Betreuung und Pflege der uns anvertrauten Menschen während der gesamten Pandemie – aber auch davor und sicher auch noch darüber hinaus – aufgrund eines überbordenden menschlichen wie professionellen Einsatzes vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich mehr Lebensfreude und Lebensqualität ermöglicht hat, als das die öffentliche wie veröffentlichte Meinung annehmen lassen würde.

Lebenswelt Heim: Welchen Beitrag leistet hier das Nationale Qualitätszertifikat für Alten- und Pflegeheime (NQZ)?
Jakob Kabas, MAS MBA: Im Rahmen meiner Masterthesis an der WU Wien habe ich mit einer Fokus-Gruppe von Menschen, die in der Pflege arbeiten, die Frage nach dem Erfolg in der Arbeit im Pflegeheim gestellt. Vieles, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dort exemplarisch anführten und auf professioneller und menschlicher Ebene auch tatsächlich leisten, wird von diesen als selbstverständlich betrachtet, insbesondere die Beziehungsarbeit. Das NQZ verlangt in künftig 24 Qualitätsfeldern eine strukturierte Verschriftlichung der Planung, Durchführung, Evaluierung und Integration der Erkenntnisse aus den individuellen Arbeitsprozessen. Das wird oft als mühsam erlebt, macht aber sichtbar, was an vielen Orten über gesetzliche Vorgaben hinaus geleistet wird. Nach dem Sprichwort „Wer schreibt, der bleibt“ ist das NQZ eine Chance für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit ihrem täglichen Engagement sichtbar zu werden. Sichtbar füreinander, aber auch für die relevanten Umwelten, in denen und für die sie arbeiten.

Lebenswelt Heim: Was zeichnet das NQZ Ihrer Meinung nach aus, was macht es besonders?
Jakob Kabas, MAS MBA: Arnold Mettnitzer hat einmal in einem Vortrag gesagt, dass wir Menschen aus unserer vorgeburtlichen Erfahrung heraus zwei Grundbedürfnisse mit in diese Welt nehmen: Wachsen können und Verbunden zu sein, also wo dazuzugehören. Mit der Geburt leben wir auch in einer Sehnsucht nach Erfüllung dieser Grundbedürfnisse. Das NQZ ist in seiner Orientierung als lernender Prozess ausgestaltet und ermöglicht daher ein Wachsen in und an den Aufgaben und Verantwortungen – und das sowohl auf der persönlichen, als auch auf der beruflichen Ebene. Bei Fortbildungen und Zertifikatsverleihungen erlebe ich immer auch Verbundenheit über Einzelleitbilder hinaus. Diese verschmelzen zu einem bunten, lebensfrohen und lebensbejahenden Gesamtbild von Menschen, die für andere Menschen Lebensqualität ermöglichen.

Lebenswelt Heim: Warum sollten sich Alten- und Pflegeheime die Chance, am NQZ teilzunehmen aus Ihrer Sicht nicht entgehen lassen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Es macht die Arbeit der Beschäftigten in diesem Bereich sichtbar, im Zeigen von Emotionen, im Erzählen von Geschichten und im Erleben von Professionalität im Umgang mit Verwundbarkeit, Alter und Tod. Es nimmt den Menschen, für die diese Orte Lebensräume darstellen, das Gefühl, eine Belastung zu sein. Es stärkt das tägliche Miteinander aller Bereiche und Berufsgruppen, und es vermittelt die Anerkennung und Wertschätzung, die sowohl Bewohnerinnen und Bewohner als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verdienen.  

Lebenswelt Heim: Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft der Pflege und Betreuung älterer Menschen aus bzw. welches Zukunftsbild würden Sie sich wünschen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Vielleicht kennen Sie die Geschichte der drei Siebe, die Sokrates zugeschrieben wird, um das Erzählen einer Geschichte zu beurteilen. Der zufolge sollte man sich stets folgende drei Fragen stellen: Ist die Geschichte wahr, ist sie gütig und ist sie notwendig? Ich kann mir in meinem täglichen Wirken und Arbeiten jetzt und auch in Zukunft folgende drei grundsätzliche Fragen für mein Denken und Tun stellen: Erhöht es die Sicherheit der Betroffenen, stärkt es die Verbindlichkeit der Handelnden und bewahrt es die Würde aller Beteiligten?

Lebenswelt Heim: Welche langfristigen Ziele möchten Sie als Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Qualität in der Betreuung älterer Menschen umsetzen?
Jakob Kabas, MAS MBA: Das NQZ soll zum Hebel eines österreichweiten Mindeststandards für Lebensqualität von betreuten wie betreuenden Menschen werden. Das ÖQZ-24h (Anm.d.Red.: Österreichisches Qualitätszertifikat für Vermittlungsagenturen in der 24-Stunden-Betreuung) soll als Sicherheit dienen, um in den eigenen vier Wänden ausreichend qualifiziert betreut werden und möglichst lange in vertrauten Lebensumwelten bleiben zu können. Darüber hinaus möchte ich gemeinsam mit dem Bundesverband Lebenswelt Heim ein zuverlässiger Partner für Politik und Gesellschaft in der Gestaltung von Lebensqualität unabhängig vom Ausmaß der Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit sein.

Lebenswelt Heim: Herzlichen Dank für das Gespräch!
 


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