Artikelbild Ein angewärmter Pyjama und ein Glas Rotwein

von Katharina Heimerl und Karin Böck

Total Pain in der Palliativen Geriatrie
Für den Schmerz, der sich in den Vordergrund drängt, alles andere verdrängt und danach ruft, gelindert zu werden, schuf Cicely Saunders den Begriff Total Pain. Es beschreibt den Schmerz in seiner Vielgesichtigkeit, der Menschen in allen Dimensionen erfasst, körperlich, psychisch, sozial und spirituell.

Schmerzen, die fast alle von uns kennen, beispielswiese leise bohrende Kopf- oder Kreuzschmerzen, sind ja nie nur körperliche Schmerzen alleine, sie beeinflussen und quälen uns auf allen Ebenen unserer Existenz, körperlich, seelisch, sozial und oft auch spirituell.

Der Begriff Total Pain wurde von Cicely Saunders geprägt, zunächst mit dem Blick auf Menschen mit Krebserkrankungen. Ganzheitlicher Schmerz ist jedoch unabhängig von Diagnosen und spielt gerade im hohen Alter eine besonders große Rolle.

Jedes Jahr veranstaltet die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie eine Akademie für ihre Mitglieder, bei der in einem partizipativen Prozess ein Text zu einem für die Palliative Geriatrie wichtigen Thema verfasst wird. So entstand 2020 das Grundsatzpapier „Total Pain in der Palliativen Geriatrie“ (FGPG 2020).

Ganzheitlicher Schmerz von hochbetagten Menschen
Es gibt kaum hochbetagte Menschen, die keine Schmerzen haben. Das hohe Alter ist gekennzeichnet von vielfachen, oft chronischen Schmerzen. Viele hochbetagte Menschen haben gelernt, mit ihren Schmerzen umzugehen, wissen, was sie entlastet. Aber in nicht wenigen schmerzhaften Situationen sind sie darauf verwiesen, dass ihnen jemand zuhört, ihre Schmerzen versteht und ernst nimmt, statt sich auf den Standpunkt zu stellen, dass Schmerzen im Alter unvermeidlich sind. Diese Verwiesenheit auf die Sorge durch andere gilt vor allem dann, wenn alte Menschen wahrnehmen, dass ihre kognitiven Fähigkeiten abnehmen, eine Situation, die mit seelischem, sozialem und spirituellem Schmerz verbunden ist. Es benötigt Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und ein hohes Maß an Verständnis.

Die körperliche Dimension
„Das Erkennen und Behandeln starker bis unerträglicher körperlicher Schmerzen hat Priorität vor allen anderen Maßnahmen“ (FGPG 2020). So lange der körperliche Schmerz nicht gelindert ist, ist es undenkbar, dass wir uns um den seelischen, sozialen oder spirituellen Schmerz kümmern. Das Lindern des körperlichen Schmerzes hat absoluten Vorrang, gerade in der Palliativen Geriatrie (Kojer 2021). Priorität hat es, dass die Sorgenden sich darum kümmern, dass die Schmerzen der Hochbetagten ein erträgliches Ausmaß haben.

Systematische Erfassung durch Beobachtungsskalen sind ein wichtiger Baustein und erleichtern die Dokumentation und den interdisziplinären Diskurs. Sie unterstützen die Kontrolle von schmerzlindernden Maßnahmen. Aber die Ergebnisse müssen in den Gesamtzusammenhang gestellt werden. Herausforderndes oder einfach nur verändertes Verhalten von Menschen mit Demenz kann immer ein Hinweis auf Schmerzen sein, aber auch deren Rückzug. Psychopharmaka und Sedativa beseitigen das Symptom (z.B.: herausforderndes Verhalten) – die Ursache bleibt.

Die seelische Dimension
„Das hohe Alter ist gekennzeichnet durch Zunahme von schmerzlichen Abschieden.“  Es beginnt beim Einzug in ein Pflegewohnhaus, wodurch Menschen fast alles verlieren, was ihnen bis jetzt vertraut war. Angst und Unsicherheit über die Zukunft, Schamgefühl gegenüber Pflegenden, Angehörigen und Mitbewohner*innen und Vieles mehr prägen danach ihren Alltag. Körperliche Schmerzen und das Leiden an kaum veränderbaren Gegebenheiten verstärken sich gegenseitig. Nicht immer kommen hochaltrige Menschen mit dieser Situation gut zurecht, manchen erscheint die Selbsttötung der einzige Ausweg. Hier braucht es helfende Beziehungen (Müller-Pein 2021) und Sorgende, die die Suizidgefahr erkennen und mit ihr umgehen können.

Die soziale Dimension
Was es bedeutet, wenn Menschen auf ihre körperlichen Aspekte alleine reduziert werden, zeigt uns die derzeitige Corona Krise. Die Fokussierung auf „virologische Gesundheit“ legt Maßnahmen nahe, die die seelischen, sozialen und spirituellen Dimensionen des Menschseins vernachlässigen (Rösler et al. 2020). Auch Einsamkeit tut weh. Diese Erfahrung mussten sowohl Bewohner*innen, als auch Angehörige und Mitarbeiter*innen in der Altenhilfe anlässlich der Maßnahmen gegen CoVid-19 machen. Menschen im Pflegeheim, die über Wochen keinen Besuch bekommen dürfen, leiden nicht nur seelisch, sondern auch ihr geistiger und ihr körperlicher Zustand werden schlechter. Die Einsamkeit als Ausdruck von sozialem Schmerz erfasst hochbetagte Menschen und insbesondere Menschen mit Demenz als ganze Persönlichkeit, in allen ihren Dimensionen (Lüdecke 2021).

Es benötigt ein auffangendes, stabilisierendes, linderndes, spürbares heilkräftiges Netz. Erfahrbar wird es durch Berührung, Präsenz, angenehme Gerüche, samtige Öle, wohltuende Kälte und Wärme, schützende bzw. umhüllende Stoffe und das Erfahren von geschenkter Zeit. (Maier & Mayer 2018) Ein angewärmter Pyjama und ein gutes Glas Rotwein wird mich einmal erinnern, dass der Abend fortgeschritten ist und ich ins Bett gehen sollte. Die erlebte Fürsorge, verbunden mit angenehmen Erinnerungen, wird dazu führen, dass ich gut schlafen kann.

Die spirituelle Dimension
Wenn die Kinder schon lange groß sind, die Berufstätigkeit nur mehr eine vage Erinnerung ist und die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe abnehmen, sei es, weil Freund*innen, Partner*innen und Familienmitglieder schon verstorben sind oder weil die verschwindenden körperlichen oder geistigen Fähigkeiten die Partizipation einschränken, stellt sich für viele die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Wertschätzendes Verständnis und Kenntnis der Biographie ermöglichen individuelle Unterstützung. Die spirituelle (religiöse) Anbindung in Form von Gebeten, Liedern und Ritualen kann Vertrauen schenken. Das Sprechen oder Lesen von vertrauten und bedeutungsvollen Texten oder Gedichten (z.B.: das Stufengedicht von Hermann Hesse) schenkt möglicherweise Zuversicht. Aber auch sinnliche Angebote in der Natur oder Musik können spirituelles Leiden lindern. (Maier & Mayer 2018, s. auch DNQP 2018)
Sinnvolle Betätigung – solche, die an die Biographie der alten Menschen anknüpft und ihnen vermittelt, dass ihre Beiträge wichtig und erwünscht sind, kann helfen, spirituelle Schmerzen zu lindern.

Hospiz-und Palliativkultur in der Altenhilfe
Schmerzen, seien es heftige oder leise bohrende, chronische oder akute, machen uns auf unsere Verwiesensheit aufmerksam (Conradi 2001).

„Durch Zuwendung und Aufmerksamkeitslenkung sowie durch Berührung und Achtsamkeit kann das Leid gelindert werden. Eine lebendige Hospiz- und Palliativkultur in der Einrichtung oder im ambulanten Dienst fördert die Umsetzung von Total Pain im besten Interesse der hochbetagten Menschen.“ (FGPG 2020)

Die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie sieht es als ihre Aufgabe, zur gesellschaftlichen Anerkennung für alte Menschen und für die großen Leistungen der Altenhilfe beizutragen. Dies ist gerade in Zeiten der CoVid-19 Pandemie wichtig, unter der die Hochbetagten und die Menschen, die sie pflegen, besonders leiden. Für eine gute Sorgekultur in unserer Gesellschaft braucht es mehr als einen Applaus einmal in der Woche, aber sogar der ist im anhaltenden zweiten Lock-down verstummt. Es braucht gute Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung für Pflegeberufe gerade in der Altenhilfe (mehr dazu im Aufruf der Plattform Care.Macht.Mehr).

 

Autoren:
Assoz. Prof. Dr. Katharina Heimerl
Universität Wien, Institut für Pflegewissenschaft,
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Karin Böck MAS (Palliative Care)
Ausgebildete Kinder-, Jugend- und Familientrauerbegleiterin,
Dipl. Gesundheits- und Krankenschwester, Dipl. Seminarleiterin, Märchenerzählerin
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Literatur:

Conradi Elisabeth (2001): Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt am Main: Campus

DNQP ((Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege) (Hrsg.)(2018). Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“. Hochschule Osnabrück: Schriftenreihe.

FGPG (2020): Total Pain in der palliative Geriatrie. Grundsatzpapier, Fachgesellschaft Palliative Geriatrie. https://www.fgpg.eu/grundsatzpapiere/ abgerufen am 21.1.2021

Kojer Marina (2021): Schmerz hat viele Gesichter. In: Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis. 3. Auflage. Wien, New York: Springer, im Druck

Maier Rosmarie, Mayer Petra (2018): Der vergessene Schmerz. Schmerzmanagement und -pflege bei Demenz. München: Ernst Reinhard, GmbH & Co KG, 2. durchgesehene Auflage.

Müller-Pein Hannah (2021): Seelischer Schmerz. Suizidale ältere Menschen in der helfenden Beziehung. Fachzeitschrift Palliative Geriatrie

Rösler Petra, Heimerl Katharina, Dressel Gert, Bachinger Nicole, Schönborn Raphael, Wegleitner Klaus (2020): Care trotz Corona mit und für Menschen im Alter. Ein Nachdenk- und Diskussionspapier. Wien: Kardinal könig Haus

 

  DRUCK/PDF 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.