Artikelbild Frau Anna weiß, was sie will! Vom Umgang mit Autonomie, Achtsamkeit und Covid-19

von Karin Böck & Katharina Heimerl

Frau Anna hat sich gut eingelebt im Pflegewohnhaus. Wenn ich ihr begegne, strahlt sie mich an und umarmt mich wie eine alte Bekannte. Wer ich für sie bin, weiß ich an vielen Tagen nicht, aber Frau Anna weiß es.

Sie weiß auch, was sie will. Das war immer schon so – jetzt umarmen, jetzt waschen (um Mitternacht), jetzt frühstücken (zu Mittag), jetzt (im Bett des Nachbarn) schlafen. Sie lebt im Hier und Jetzt. Wenn ihre Tochter da ist, geht sie mit ihr ins Kaffeehaus auf ein Kipferl und einen Milchkaffee – jetzt! Frau Anna geht es gut, wenn sie sich nicht eingeschränkt fühlt.

Heute ist ihre Tochter Maria da. Wegen der Corona-bedingten Einschränkungen kann sie nicht mit Frau Anna ins Kaffeehaus gehen und bringt stattdessen Kaffee und Kipferl. Frau Anna versteht das nicht und wird aggressiv. Tochter Maria versteht auch nicht, weshalb sie mit ihrer Mutter nicht ins Kaffeehaus gehen soll. Ihre Mutter war immer glücklich, wenn die Kellnerin Kaffee und Kuchen gebracht hatte. Dann strahlte sie Würde und Schönheit aus. „Andere Menschen gehen auch ins Kaffeehaus“, dachte Maria, „trotz Corona!“. Sie würde schon aufpassen.

Pflegepersonen in Pflegewohnhäusern haben den Auftrag Hochbetagte, die durch das Virus besonders gefährdet sind, vor einer Ansteckung zu schützen, wissend, dass die damit einhergehende Isolation Einsamkeit bedeutet und krank machen kann.

Auch Frau Anna benötigt Fürsorge, die sie schützt, aber nicht ihre Würde verletzt oder ihre Freude am Leben stark einschränkt. Frau Anna kann die Bedeutung einer möglichen Ansteckung für sich und andere nicht erfassen. Es entspricht nicht ihrer konkreten Erlebniswelt, sondern würde ein erweitertes logisch-abstrahierendes Denken erfordern. Frau Anna orientiert sich an ihren Bedürfnissen und entscheidet im Sinn von intuitionsbezogenem Ad-hoc-Handeln (Wunder, 2008). Beziehung hilft, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Auch dieses Mal verändern einfühlsame Worte ihrer Bezugspflegekraft die Stimmung und Frau Anna entscheidet sich für Kaffee und Kipferl in der gemütlichen Ecke im Besucherzimmer. Wie es beim nächsten Besuch sein wird, weiß niemand, auch Frau Anna nicht.

Die Corona-Krise macht die Spannungsfelder von Autonomie und Angewiesenheit (Walser 2010), von Unabhängigkeit und Abhängigkeit, von Freisein und Gebundensein, von Selbstbestimmung und Bezogenheit besonders deutlich.

Pflegepersonen sehen diesen Wille-Wohl Konflikt (Wunder, 2008). Um mit diesem Konflikt umzugehen, benötigen sie Fachwissen, Kenntnisse in Kommunikation für gelingende Entscheidungsprozesse und Zeit für achtsame Zuwendung. Achtsame Zuwendung ist auch ein Ausdruck von Qualität und verlangt Rahmenbedingungen in Einrichtungen und Diensten, die diese Qualität ermöglichen (Conradi 2014). Diese Rahmenbedingungen machen eine Einrichtung zur sorgenden Organisation für alle, die in ihr leben und arbeiten.

Fürsorge/Care für diejenigen, die betreuen und pflegen, Fürsorge/Care für unterstützungsbedürftige Menschen subsummiert sich in der Care Ethik, die auch Ethik der Fürsorge (Kohlen, Kumbruck 2008) genannt wird. „Der Mensch wird erst am Du zum Ich“ (Buber,1923). Bezogenheit ist unerlässlich. Das gilt für alle Menschen, aber noch viel mehr für Menschen, deren „Ich bedroht“ ist (Van der Kooij, 2017).  In der Care-Ethik kommen Aspekte in den Blick, die für Menschen wie Frau Anna besonders wichtig sind: Verletzlichkeit, Achtsamkeit und Bezogenheit. Die Ethik der Fürsorge beruht auf 3 Ausgangspunkten.

  • Erster Ausgangspunkt: die Verletzlichkeit des Menschen
    Für die Ethik der Fürsorge steht nicht die Autonomie des Menschen im Zentrum, sondern seine Verletzlichkeit oder Vulnerabilität. Aufgrund vieler Verluste und Leistungseinbußen nimmt die Verletzlichkeit im hohen Alter zu. Hochbetagte sind in körperlicher, seelischer, sozialer und spiritueller Hinsicht verletzlich (Gastmans 2003), Menschen mit Demenz aufgrund sozialer Ausgrenzung ganz besonders.
  • Zweiter Ausgangspunkt: Achtsamkeit
    Das zentrale Konzept der Care Ethik ist die Achtsamkeit (Conradi 2014). Achtsamkeit ist gerade dann wichtig, wenn es – wie in der Palliativen Geriatrie – um sorgende Aktivitäten geht. Care bzw. Fürsorglichkeit ist eine Praxis der Achtsamkeit und Bezogenheit, in der es um Gesten der Aufmerksamkeit, um pflegende und versorgende menschliche Interaktionen geht. Um Achtsamkeit zu (er)leben, zu schenken und zu empfangen, kommt es nicht so sehr auf die Fähigkeit zur Autonomie an, sondern auf die Bereitschaft, zu akzeptieren, dass Menschen grundlegend aufeinander angewiesen sind. (Conradi 2001)
  • Dritter Ausgangspunkt: Bezogenheit
    Die Ethik der Fürsorglichkeit geht davon aus, dass Menschen grundlegend aufeinander angewiesen sind. Dies gilt insbesondere in der Palliativen Geriatrie. Hochbetagte Menschen können ihre Selbstbestimmung meist nur mit Hilfe der Unterstützung von Familien, Nachbar*innen, informellen und professionellen Helfer*innen leben (Heimerl, Berlach-Pobitzer 2000). Die Autonomie für hochbetagte Menschen – aber nicht nur für sie - ist eine „relationale Autonomie“ (Reitinger, Heller 2010, 741f.), eine Selbstbestimmtheit, die sich in und durch Beziehung verwirklicht.

    Es hat Frau Anna geholfen, dass hier jemand war, dem sie vertrauen konnte.
    Ihrer Tochter Maria hat es geholfen, Mitbewohner*innen in den Blick zu nehmen, die auch durch eine Infektion gefährdet wären, zum Beispiel der liebenswerte und charmante Herr von nebenan, den ihre Mutter dann und wann umarmte.

    Pflegepersonen und anderen Entscheidungsträgern helfen verständliche Bescheide von Behörden. Den Blick auf den individuellen Menschen werden sie nie ersetzen können. Es sind individuelle Wege zu suchen um Willen und Wohl gerecht zu werden in einer sorgenden Gemeinschaft. Sind Entscheidungswege und die sich daraus abgeleiteten Pflegeziele nachvollziehbar und dokumentiert, können sie auch verantwortet werden (Halmich, 2019).

    Auch und gerade in der Corona-Krise brauchen alte Menschen Kontakt, Zuwendung und Bezogenheit, das ist ihnen nicht zu verwehren (Rösler et. al. 2020). Soziale Teilhabe ist und bleibt ein Menschenrecht (Riedel et al. 2017), auch in Zeiten von Corona. Ob ein Leben mit Demenz lebenswert ist, hängt entscheidend davon ab, wie sich die Gesellschaft gegenüber den Betroffenen verhält.

    Einfach zum Nachdenken: „Life is what happens to you while you are busy making other plans.“ (John Lennon). Im Hier und Jetzt zu leben und nicht auf morgen zu warten um glücklich zu sein, kann uns Frau Anna lehren.

    Das Grundsatzpapier „Autonomie und Selbstbestimmung im Blick auf die Palliative Geriatrie“
    Die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie hat im Herbst 2019 ein Grundsatzpapier verfasst, in dessen Zentrum die Aussagen stehen:

    „Die Selbstbestimmung als Teil des Autonomieprinzips spielt gesellschaftlich gegenwärtig eine besondere Rolle. Es wird weithin angenommen, dass sie ein wesentlicher Aspekt des Menscheins ist, für Menschen mit Demenz ebenso wie für alle anderen. Damit verbunden ist mitunter eine Überbetonung der Selbstbestimmung, übersehen wir dabei oft die wechselseitige Abhängigkeit von Menschen. Im hohen Alter und in der Demenz nehmen Verletzlichkeit und Abhängigkeit zu, dennoch kann Selbstbestimmung im Sinne von „relationale Autonomie“ gelebt werden.

    Die Selbstbestimmung eines Menschen anzuerkennen, bedeutet, ihn in seiner Würde zu achten. Palliative Geriatrie setzt sich dafür ein, dass hochbetagte Menschen bis zuletzt ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Durch rechtzeitige und vorausschauende Planung kann es den Betreuenden gelingen, auch dann im Sinne der Betroffenen zu handeln, wenn diese nicht mehr selbst entscheiden können. Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben von Palliativer Geriatrie, alte Menschen stets ernst zu nehmen und ihnen auch und gerade dann empathisch zuzuhören, wenn sie sich wünschen, zu sterben.

    Ebenso wichtig, wie die Sorge für die Selbstbestimmung der Betroffenen ist es, berechtigte Ansprüche der professionell Sorgenden, der Angehörigen und Bezugspersonen zu respektieren. Palliative Geriatrie setzt sich daher ebenso für adäquate Rahmenbedingungen und Ressourcen für die Betreuung hochbetagter Menschen ein, wie für die Schaffung entsprechender Arbeitsbedingungen und Reflexionsräume für die Menschen, die sie betreuen.“ (FGPG 2019)

    Hier finden Sie den gesamten Text des Grundsatzpapiers.



    Dr.in Katharina Heimerl, MPH
    Assoziierte Professorin für Palliative Care und Organisationsentwicklung
    Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien
    Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes der Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie e.V.
    eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!



    Karin Böck, MAS

    Beisitzerin im Vorstand der Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie e.V.
    Pflegedienstleiterin Mobiles Caritas Hospiz Wien
    eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!





    Literatur
    Buber, Martin (2006): Das dialogische Prinzip: Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. 10. Auflage, Gütersloher Verlagshaus.
    Conradi, Elisabeth (2001): Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt, New York: Campus.
    Conradi, Elisabeth (2014): Ethik der Achtsamkeit. Care zwischen Bevormundung und Teilhabe. Vortrag beim Symposium zur Sorgekultur im Alter am 27.9.14, Köln.
    Gastmans Chris (2013): Dignity-enhancing nursing care: A foundational ethical framework. Nursing Ethics 20(2), 142–149.
    Halmich, Michael (2019): Recht in der Palliative Care. Behandlungsentscheidungen/Patienten-und Berufsgruppenrechte/Fallbeispiele. Praxisliteratur für Gesundheitsberufe – Band III. 1. Auflage. Wien: Educa Verlag Halmich e.U.
    Heimerl Katharina, Berlach-Pobitzer Irene (2000): Autonomie erhalten: eine qualitative PatientInnenbefragung in der Hauskrankenpflege. In: Elisabeth Seidl, Martina Stankova und Ilsemarie Walter (Hrsg.) (2000): Autonomie im Alter. Wien: Wilhelm Maudrich, 102 – 165.
    Kohlen Helen, Kumbruck Christel (2008): Care-(Ethik) und das Ethos fürsorglicher Praxis (Literaturstudie). artec-paper Nr. 151. ISSN 1613-4907.
    Reitinger Elisabeth, Heller Andreas (2010): Ethik im Sorgebereich der Altenhilfe. In Krobath Thomas, Heller Andreas (Hg.): Handbuch Organisationsethik. Freiburg i.B.: Lambertus, 737-765.
    Riedel Annette, Behrens Johann, Giese Constanze,·Geiselhart Martina, Fuchs Gerhard, Kohlen Helen, Pasch Wolfgang, Rabe Marianne, Schütze Lutz (2017): Zentrale Aspekte der Ethikkompetenz in der Pflege. Ethik in der Medizin (2017) 29:161–165. DOI 10.1007/s00481-016-0415-7.
    Rösler Petra et al. (2020): Care trotz Corona mit und für ältere Menschen. Ein Nachdenk- und Diskussionspapier. https://pflege-professionell.at/care-trotz-corona-mit-und-fuer-menschen-im-alter
    Wunder, M. (2008): Demenz und Selbstbestimmung. Online publiziert: 22. November 2007. Ethik Med 2008.20:17-25. Springer Medizin Verlag GmbH 2008.
    Van der Kooij, Cora (2017): Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell: Darstellung und Dokumentation (Deutsch). 2. Auflage, Hogrefe AG.


    DRUCK/PDF

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.