Artikelbild Erwachsenenschutzrecht – quo vadis?

von Klaus Boris Binder

Eine Kurzdarstellung des mit 1. Juli 2018 in Kraft getretenen 2. Erwachsenenschutz- gesetzes samt Bemerkungen aus der Praxis

Am 1. Juli 2018 ist nach einem langjährigen intensiven Gesetzwerdungsprozess, der vor allem durch die Partizipation vieler in diesem Bereich tätiger Organisationen und Institutionen (auch aus dem Pflegebereich) sowie hohe mediale Präsenz geprägt war, das 2. Erwachsenenschutzgesetz in Kraft getreten. Dabei handelt es sich um die umfassendste Reform des bisherigen Sachwalterrechts seit 1984, welche zur Umsetzung der Kritikpunkte des Monitoringausschusses zum Übereinkommen der Vereinten Nationen für Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: UN-Behindertenrechtskonvention) sowie gehäufter Beschwerden bei der Volksanwaltschaft über Missstände und die hohe Anzahl an Sachwalterschaften (Stand 1. Juli 2018: rund 53.000 österreichweit) notwendig geworden war.
Als wesentlichste Neuerungen dieser gänzlichen Neustrukturierung können folgende Punkte hervorgehoben werden:

  • Moderne Terminologie: „Erwachsenenvertreter/in“ statt „Sachwalter/in“; „vertretene, erwachsene oder (vom Verfahren) betroffene Person“ statt „behinderte Person“
  • Alternativen zur gerichtlichen Vertretung wurden ausgebaut: insgesamt stehen nun vier Säulen zur Verfügung: Vorsorgevollmacht, gewählte Erwachsenenvertretung (gänzlich neue Vertretungsform), gesetzliche Erwachsenenvertretung (Fortentwicklung der Angehörigenvertretung) und als ultima ratio gerichtliche Erwachsenenvertretung (Ablöse der Sachwalterschaft)
  • Erwachsenenschutzvereine dienen als Drehscheibe der Rechtsfürsorge: sie stehen Vertretenen, Angehörigen und Interessierten als Beratungsstelle zur Seite; sie können sämtliche alternativen Vertretungsformen ins Entstehen bringen und sie sind zwingend in jedes gerichtliche Bestellungs- und Erneuerungsverfahren eingebunden (verpflichtende Abklärung – sog. „Clearing“ – in jedem gerichtlichen Verfahren)
  • Ausbau der Autonomie für die vertretenen Personen: keine der Vertretungsformen führt zum automatischen Verlust der Handlungsfähigkeit innerhalb des Wirkungsbereichs des Vertreters/der Vertreterin; eine Ausnahme ist in Form des sogenannten Genehmigungsvorbehalts nur für die gerichtliche Erwachsenenvertretung vorgesehen und muss individuell geprüft werden (Voraussetzungen: ernstliche und erhebliche Gefahr für die vertretene Person)
  • Fokus auf Individuum und nicht auf die Krankheit: in jedem gerichtlichen Verfahren ist vom Erwachsenenschutzverein verpflichtend eine Abklärung („Clearing“) über die individuelle Situation der Person durchzuführen und Alternativen (zB Unterstützungsmöglichkeiten) zur Stellvertretung auszuloten
  • Vereinheitlichung der Standards für Errichtung alternativer Vertretungsformen / mehr Transparenz: sämtliche der alternativen Vertretungsformen können nur bei professionellen Errichtungsstellen (rechtsberatenden Berufe oder Erwachsenenschutzvereinen) ins Entstehen kommen und müssen in ein zentrales Register (Österreichisches Zentrales Vertretungsverzeichnis, kurz ÖZVV) eingetragen werden
  • Ausbau des Subsidiaritätsgrundsatzes: Stellvertretung soll immer nur die letzte Stufe sein; Ausfluss dieses Grundsatzes ist auch die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit von Stellvertretung: deshalb ist für die gesetzliche und gerichtliche Erwachsenenvertretung als 3. und 4. Stufe der Vertretungsformen jeweils eine Befristung von drei Jahren vorgesehen; die Vertretung kann lückenlos neu registriert/erneuert werden, wenn dies notwendig ist


Für die Praxis bedeutet das, dass selbst bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung, z.B. einer im Pflegebereich oft anzutreffenden Alzheimer-Demenz, und der durch diese Erkrankung bedingten (kognitiven) Einschränkungen zunächst überprüft werden muss, ob die Angelegenheiten Betroffener (z.B. Verwaltung des Pensionseinkommens bzw. von Ersparnissen, Abschluss eines Heimvertrags, Antragstellung zum Pflegegeld, Zustimmung zu einer medizinischen Heilbehandlung, Auflösung/Verkauf der Wohnung in Folge Übersiedlung in ein Pflegeheim etc) nicht durch ausreichende Unterstützungsmaßnahmen – sei es im familiären Setting, sei es durch ProfessionalistInnen – geregelt werden können.

Erst, wenn keine hinreichende Unterstützung vorhanden oder möglich ist, kommt – sollte die betroffene Person keine Vorsorgevollmacht errichtet haben – eine Erwachsenenvertretung in Betracht. Zunächst ist hier aber zu schauen, ob eine gewählte oder gesetzliche Erwachsenenvertretung – letztere ist „nur“ bei nahen Angehörigen möglich – Abhilfe verschafft, in diesem Fall ist das Gericht noch nicht involviert. Eine Eintragung dieser beiden Formen der Erwachsenenvertretung in das ÖZVV ist – wie jene der Vorsorgevollmacht auch – bei Erwachsenenschutzvereinen, RechtsanwältInnen und NotarInnen vorgesehen.

Nur wenn tatsächlich keine dieser drei Varianten zum Tragen kommt und dennoch ein Vertretungsbedarf besteht, ist in einem umfassenden gerichtlichen Verfahren, in dem insbesondere eine genaue Abklärung durch die Erwachsenenschutzvereine als auch eine persönliche Erstanhörung der Betroffenen durch die/den RichterIn stattfinden, eine gerichtliche Erwachsenenvertretung (vormals: Sachwalterschaft) anzuordnen. Diesfalls sind aber die konkret zu erledigenden Angelegenheiten genau und so detailliert wie möglich zu beschreiben, um die Vertretung tatsächlich auf das absolut Notwendige zu beschränken und die Eigenständigkeit der Betroffenen so weit wie möglich zu wahren. Darüber hinaus ist die gerichtliche Erwachsenenvertretung – wie im Übrigen auch die gesetzliche Erwachsenenvertretung – mit drei Jahren zeitlich befristet. Spätestens nach Ablauf der Befristung hat eine neuerliche umfangreiche Überprüfung stattzufinden.

Um den reibungslosen Übergang vom Sachwalter- zum Erwachsenenschutzrecht gewährleisten zu können, wurden schon bis zum Inkrafttreten des Gesetzes mit 1. Juli 2018 zahlreiche flankierende Maßnahmen gesetzt, wie bundesweite Fortbildungsveranstaltungen im Bereich der Justiz, der Pflegeheime und Betreuungseinrichtungen in allen Bundesländern sowie von ÄrztInnen, Veröffentlichung von Informationsbroschüren in komplexer und einfacher Sprache, Erstellung von Leitfäden für Einrichtungen/Institutionen, die besonders häufig mit vertretenen Personen in Berührung kommen (Konsenspapiere „Bankgeschäfte und Erwachsenenschutz“; „Erwachsenenschutzrecht und Gesundheitsberufe“ und „Erwachsenenschutzrecht für Heime und andere Betreuungseinrichtungen“) und Förderung von Kooperation zwischen den verschiedenen Beteiligten. Daneben finden nach wie vor Austausch- und Vernetzungstreffen mit den unterschiedlichsten Institutionen statt, um die Umsetzung des Gesetzes zu evaluieren und allfällige Missstände zu „beheben“ bzw. Missverständnisse zu bereinigen, die im Rahmen eines derartig großen Gesetzesprojekts zwangsläufig entstehen können.

Nunmehr – rund zweieinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des 2. Erwachsenenschutzgesetzes – lässt sich feststellen, dass die darin verankerten Ideen grundsätzlich in der Praxis angekommen sind, es allerdings immer noch Bereiche gibt, in denen jedenfalls Verbesserungsbedarf besteht. Drei seien an dieser Stelle in aller Kürze hervorgehoben.

  1. Die Alternative „Unterstützung vor Stellvertretung“ insbesondere in Form von professioneller Sozialer Arbeit ist oftmals – gerade im Bereich der Betreuung im Pflegeheim befindlicher Menschen - aus Finanzierungsgründen – die Sozialressorts sind im Gegensatz zum Erwachsenenschutzrecht Sache der Bundesländer – schlichtweg nicht vorhanden, sodass trotzdem wieder auf die Erwachsenenvertretung zurückgegriffen werden muss, damit Betroffenen keine Nachteile entstehen.
  2. Einige Bankinstitute haben trotz des entsprechenden gemeinsam mit VertreterInnen der Banken erarbeiteten Konsenspapiers (vorsichtig formuliert) Schwierigkeiten mit den von den Gerichten aufgrund des klaren Gesetzesauftrags getroffenen detailliert beschriebenen Angelegenheiten, für welche die gerichtliche Erwachsenenvertretung angeordnet wurde, bzw. weigern sich teilweise diese umzusetzen, was ErwachsenenvertreterInnen oftmals vor große Probleme stellt, wenn sie in finanziellen Angelegenheiten Entscheidungen zu treffen haben.
  3. Im Bereich der medizinischen Heilbehandlung, wozu u.a. auch die dauerhafte Gabe von Medikamenten (z.B. Psychopharmaka) zählt und wo eine detaillierte gesetzliche Regelung vorliegt, wie von behandelnden ÄrztInnen im Falle eines bevorstehenden medizinischen Eingriffs im weitesten Sinn vorzugehen ist, besteht nach wie vor dringender Schulungsbedarf, damit dem im Gesetz verankerten Grundsatz, dass eine medizinische Behandlung unter größtmöglicher Einbindung (auch psychisch kranker) Betroffener stattfinden soll, auch Rechnung getragen wird.


Alles in allem hat das 2. Erwachsenenschutzgesetz sicher einen Paradigmenwechsel dahingehend herbeigeführt, dass der Grundsatz „Vertretung nur dort, wo sie wirklich unvermeidbar ist“ tatsächlich verwirklicht wurde. Allerdings bedarf es sicher noch eines umfassenden, immer wieder zu führenden Diskussions – und Lernprozesses, um eine weitere Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft an sich, aber auch in den jeweiligen Institutionen, dafür zu schaffen, dass auch von einer psychischen Erkrankung oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung Betroffene vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sind und nur in Ausnahmefällen eine Einschränkung ihrer (rechtlichen) Handlungsmöglichkeiten angeordnet werden soll.






Mag. Klaus Boris Binder BA

Richter des BG Linz und Referent in der Abt. I 1, BMJ
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