Artikelbild Beruf(ung) Heimärztin Eine persönliche Berufsbiografie

von Eva Maria Schütz

Eigentlich wollte ich ja nach Afrika gehen. Aus Abenteuerlust und weil dort Kranke ohne Zugang zu medizinischer Versorgung „richtige Ärzte“ brauchen. Dann hatte ich plötzlich eine Familie und blieb in Österreich.

Nach dem Studium als einzigen „medizinischen“ Job: Stationsgehilfin im NÖ Landespflegeheim Perchtoldsdorf. Ich blieb 10 Monate und entdeckte meine Liebe zu alten Menschen.

Eine Zeitlang wollte ich deswegen Internistin werden. Auf meine Frage nach einem Ausbildungsplatz hieß es: „Frauen nehmen wir nicht so gern.“ Kam ich auf dem Weg ins Spital an einem Pflegeheim vorbei, bedauerte ich, dass die Heime nur mit Kassenärzten arbeiteten. Das Geld für eine Ordinationsgründung hatte ich nie. Inzwischen fand ich meine Abenteuer im Notarztwagen. Dann wurde das Landespflegeheim Berndorf gebaut. Und tatsächlich suchte das Land NÖ eine hauptamtliche Heimärztin.

Nun bin ich schon 22 Jahre in dieser Tätigkeit und habe meine Entscheidung nicht einen Tag bereut. Ich kenne sonst keinen Arbeitsplatz für Ärztinnen, der eine so hohe fachliche Eigenständigkeit in der ärztlichen Berufung mit Familienfreundlichkeit und sozialer Sicherheit vereinbart. Das kam mir als Mutter sehr entgegen und die Teilzeit im Heim erlaubte mir parallel die Arbeit am Notarztwagen.

Damals sah ich großen Entwicklungsbedarf bezüglich medizinischer Betreuung in der stationären Langzeitbetreuung in Österreich. Menschen in Pflegeheimen hatten viel zu wenig Zugang zu medizinischer Versorgung und häufig erhielten sie nicht die Hilfe, die sie wirklich brauchten. Ich stieß in Fachzeitschriften auf das Konzept „Frailty“ mit den folgenden Defiziten und Risiken des Alters: Multimorbidität, Einbußen an kognitiven und Sinnesleistungen, Mangelernährung, Immobilität, Stürze, Wunden, Schmerzen, Verluste und Sterben.
Fortan kümmerte ich mich in Berndorf bei jeder meinen Patientinnen um jeden dieser Bereiche. Außerdem beteiligte ich mich an der Organisationsentwicklung des Heims – weil Medizin eben ein „eigener“ Bereich, neben Pflege, Administration, Küche usw. ist.
Die Notarzttätigkeit gab ich auf. Ich habe in der stationären Langzeitbetreuung genug „Abenteuer“ und ein erfülltes Leben gefunden.

Ein Vorteil gegenüber dem Krankenhaus waren und sind die flachen Hierarchien im Pflegeheim. Ich fand Unterstützung bei Heimleitung und Pflegeleitungsteam.

Pflegeteams und Küche haben meine Impulse mitgetragen. Mit jedem Frailty-Bereich, dem wir uns widmeten, stieß ich auf Neuland.
Wir in Berndorf wissen seit 1998: die hauptamtlich angestellte Heimärztin bringt einen Quantensprung in der medizinischen Betreuungsqualität im Pflegeheim. Ich visitiere täglich alle Wohnbereiche. Die Verfügbarkeit eines verantwortlichen Arztes erlaubt der Pflege, akut Erkrankte, Schwerkranke und Sterbende im Haus zu betreuen und verhindert viele Krankenhaustransporte. Gespräche mit der Heimärztin bieten Angehörigen die Sicherheit, dass für den alten Menschen die richtige Entscheidung getroffen wird. Ich führe interdisziplinäre Fallbesprechungen an der Weggabelung zwischen kurativer und palliativer Betreuung. Ich begleite die Pflege zu wöchentlichen Wundvisiten, unsere Verbandmittel- und Heilbehelfslager sind immer gefüllt. Durch einen Pauschalvertrag mit den Krankenkassen bezahlen die Patientinnen keine Rezeptgebühr – wir bestellen die Medikamente inklusive Infusionstherapien zu günstigen Tarifen. Das verschafft mir therapeutischen Spielraum.

Mit konsequenten Medikamentenchecks bekämpfe ich Polypharmazie. Auch Prophylaxe ist möglich – mit Serienimpfungen gegen Influenza und Lungenentzündung vermindern wir Atemwegsinfekte und lassen Grippewellen nicht ins Haus. Mit unserer Physiotherapeutin konnte ich ein Netz an externen TherapeutInnen aufbauen. Derzeit bieten wir 50 Wochenstunden Therapie für unsere BewohnerInnen.

Im Jahr 2000 gründeten wir einen Hospizverein, um auch alte Menschen im Heim in der Sterbephase zu begleiten, ich koordinierte in der Pionierphase unser ehrenamtliches Hospizteam. Heute ist das Standard. 2007 etablierten wir mit Unterstützung der Landesabteilung das erste Ernährungsteam in deutschen Landen für Pflegeheime. In dieses Team luden wir auch zwei Köche – damals in Fachkreisen ein Sakrileg, weil Köche ja nicht akademisch sind! In den Landesheimen rannten wir aber offene Türen ein und implementierten wissenschaftlich basierte Strukturen gegen die Mangelernährung.

Im Jahr 2010 folgte die EDV-gestützte Patientendokumentation für die fast 50 Landesheime. Die nahtlose Integration des ärztlichen Teils dieser Digitalisierung war eine Pionierleistung der NÖ Heime, an der ich teilnehmen durfte. Das verbessert die Informationsweitergabe interdisziplinär im Haus und nach draußen. Wir sind nun imstande, Parameter zu allen Frailty-Problembereichen für beliebig viele Patientinnen mit wenig Aufwand selbst zu erheben und daraus notwendige Maßnahmen abzuleiten.
Menschen mit Demenz können körperliche Schmerzen oft nicht klar ausdrücken. Das Erkennen und Lindern der Schmerzen dieser Patientinnen hat für mich die gleiche Selbstverständlichkeit wie das Blutdruckmessen. Reagieren demente Menschen mit Rückzug, sind sie unglücklich oder aggressiv, suche ich auch in der Biografie nach Ursachen und Traumen, bis ich ihnen helfen kann.

Für fachlichen Austausch haben wir eine ARGE der NÖ Heimärzte gegründet, die sich vierteljährlich trifft, fortbildet und an der Qualitätsentwicklung in den modernen Pflege- und Betreuungszentren aktiv teilnimmt. Heute gehören EKG-Geräte, Pulsoximeter, Notfallkoffer, Sauerstoffgeräte und gut gefüllte Verbandwägen zum Standard. Ich betrachte es als meine Pflicht, meinen vulnerablen Patientinnen den Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems zu öffnen: wir garantieren freie Arztwahl, Zahnarzt, Urologin und Neurologe kommen ins Haus – ich versuche Termine bei den besten Fachärztinnen zu bekommen. Ich kündige meine Patientinnen im Krankenhaus meist an und erkläre die Vorgeschichte. Ich habe einen sehr persönlichen Zugang zum Schicksal meiner Patientinnen und sehe meine Arbeit ganzheitlich: wenn ich als Kasperl das Faschingsfest moderiere, empfangen sie mich in den folgenden Tagen lachend zur Visite.

Wenn ich Ende dieses Jahres in Pension gehe, hoffe ich auf eine engagierte Nachfolgerin / einen engagierten Nachfolger. Die Arbeit im Heim ist fordernd, aber bunt und attraktiv und die Zuwendung, die ich gebe, habe ich reichlich zurückbekommen.   



Dr. Eva Maria Schütz
Pflege- und Betreuungszentrum Berndorf

 

 

 

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