Artikelbild Gerald Milcher zu sechs Corona-Monaten im Seniorenwohnhaus

von Gabriele Tupy

Gerald Milcher, Pflegedirektor zu sechs Corona-Monaten im Seniorenwohnhaus Grillparzerstraße in Kapfenberg

Lebenswelt Heim: Herr Milcher, Sie sind Pflegedirektor in einer Langzeiteinrichtung, seit wann üben Sie diesen Beruf aus?

Gerhard Milcher: Seit 2004 in der „Grille“ (Anm.: Das Seniorenwohnhaus Grillparzerstraße in Kapfenberg bietet ein Zuhause für 70 Bewohner*innen)

Lebenswelt Heim: Haben Sie schon einmal eine so herausfordernde Zeit als Leiter erlebt?

Gerhard Milcher: Grundsätzlich nicht. Es ist momentan eine enorme Gratwanderung zwischen Sicherheit für die Bewohner*innen, die Mitarbeiter*innen, aber auch für die Angehörigen und gleichzeitig alle Vorschriften einzuhalten. Man soll alles ermöglichen, aber eben auch sehr vorsichtig sein.
Der administrative Aufwand ist momentan so groß wie noch nie zuvor. Wir haben seit den Corona-Richtlinien Anfang März zweieinhalb Ordner gefüllt, in denen alle Vorgaben des Landes Steiermark, jeder Mailverkehr, jedes Schriftstück, die Vorgaben des SHV-Bruck/Mürzzuschlag, alle Empfehlungen (wie z.B. die der ARGE-Heime Steiermark) usw. festgehalten wurden.

Lebenswelt Heim: Waren die Empfehlungen immer realistisch umzusetzen? Stand bezüglich Schutzmaterialien alles zur Verfügung?

Gerhard Milcher: Bezüglich Schutzausrüstung hätten wir von Beginn an ein Problem gehabt, wenn wir nicht die Lager Kapazitäten gehabt hätten, die uns zu Verfügung stehen, d.h. da waren wir zum Glück gut aufgestellt.
Die Informationsweitergabe bzw. teilweise Informationsflut war interessant, denn wenn man von einer Fachabteilung binnen einer Stunde drei Mal das gleiche Mail bekommt, kennt man sich nicht ganz aus. Und teilweise sind die Vorgaben des Landes überbordend, denn wenn man aus einer Ausnahmesituation einen Dauerzustand macht, wird das irgendwann von den Mitarbeiter*innen bzw. auch Bewohner*innen und Angehörigen nicht mehr wahrgenommen. Wie auch das jetzt vorbereitete Ampelsystem der Regierung zeigt, braucht es einfach einen Stufenplan. FFP3-Masken zum Beispiel, sollten meiner Meinung nach dann verwendet werden, wenn ein konkreter Verdachtsfall eintritt, aber nicht schon von Beginn an. Ständig auf Höchstlevel zu fahren hält auf Dauer kein System durch.

Lebenswelt Heim: Wer schult Ihre Mitarbeiter*innen im richtigen Umgang mit dem Anlegen von Schutzanzügen?

Gerhard Milcher: Gemeinsam mit einer Kollegin, die ebenfalls wie ich die Ausbildung zur hygienebeauftragten Pflegeperson hat, haben wir die Richtlinien des SHV Bruck/Mürzzuschlag an unsere Mitarbeiter*innen weitergegeben. Auch wurde entschieden, dies nicht nur einmalig zu machen, sondern auf zwei Ebenen: Zuerst wurde das Schriftstück bei der praktischen Schulung übergeben und dann, in einem Abstand von mindestens 14 Tagen bis 4 Wochen, wurden die Mitarbeiter*innen noch einmal gebrieft: „Wurde alles verstanden? Ist noch etwas unklar? Gibt es noch Fragen?“
Wobei zu erwähnen ist, dass unsere Mitarbeiter*innen auch vor Covid-19 schon Kontakt mit verschiedenen Ausnahmefällen (MRSA, MRGN-Keime,..) und dadurch mit Schutzmänteln hatten und daher mit dem richtigen Umgang  schon vertraut waren.  

Lebenswelt Heim: Dieses Thema ist nicht nur eine logistische Herausforderung, sondern auch eine finanzielle. Wenn man sich an die Empfehlungen der Fachabteilung 8 in der Steiermark hält, würden extreme Zusatzkosten auf die einzelnen Heimbetreiber zukommen. Wie hat Ihr Träger darauf reagiert?

Gerhard Milcher: Einerseits bekamen wir durch einen zentralen Einkauf für alle 8 Häuser des SHV- Bruck/Mürzzuschlag günstige Preise, zumindest als sie noch günstig waren. Und andererseits konnten wir auch mit den selbstgenähten MSN-Masken einen Engpass zu Beginn der Pandemie überbrücken, bzw. konnten wir die professionellen MSN-Masken dadurch eine Zeit lang zurücklegen.
Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir jetzt mehr davon brauchen und auch die Preise ordentlich steigen. (Bsp. 50 MSN-Masken kosteten im Jänner noch 7,99 Euro und zwei Monate später 29,90 Euro – selbes Produkt, selbe Firma). Dass wir nun selbst kreativ wurden und eigene „wiederverwendbare“, beschichtete OP-Mäntel entwickelt haben, löst auch ein bisschen den finanziellen Druck, aber das zeigt auch, dass das Organisationstalent dahinter sehr ausgereizt wurde, d.h. die Zeit, die dafür verwendet wurde, fehlt anderswo, nämlich meistens bei den BewohnerInnen.

Lebenswelt Heim: Welche Vorgaben gibt es bei den Masken? Dürfen Mitarbeiter*innen mit selbstgenähten Masken arbeiten bzw. gibt es da Richtlinien?

Gerhard Milcher: Wir halten uns an die Empfehlung der Fachabteilung und verwenden momentan mindestens eine OP-Maske. Diese wurde auch von den Mitarbeiter*innen den selbstgenähten Masken vorgezogen.

Lebenswelt Heim: Wie gehen Ihre Mitarbeiter*innen mit den Einschränkungen um – Maskenpflicht, Abstand, Gesundheitschecks….?

Gerhard Milcher: Die Gesundheitschecks sind schon Routine und auch bei Anzeichen wie Schnupfen, Husten, Halsweh, usw. merkt man eine gewisse Sensibilität. Das Abstand halten im Job funktioniert sehr gut, ist in der Pause jedoch verbesserungswürdig. Vor allem bei verschiedenen Pflegeteams weise ich darauf hin Abstand zu halten oder versetzte Pausen zu machen, wobei ich finde, dass man auch die Kraft der sozialen Kontakte nicht unterdrücken bzw. unterschätzen sollte. Denn wenn Menschen nicht mehr mit Menschen leben dürfen – sei es Bewohner*innen oder Mitarbeiter*innen – wird es einsam und dann macht kein Job wirklich Spaß.

Lebenswelt Heim: Wie haben bzw. nehmen Sie die Unterstützung der zuständigen Behörden wahr? Was macht es mit Ihnen und Ihren Mitarbeiter*innen, wenn man von Seiten des Vertretungsnetzes hört, dass bundesweit Pflegeheime teilweise mit Gefängnissen vergleichen werden?

Gerhard Milcher: Es war so, dass diese Damen und Herren zu keiner Zeit Rücksprache mit den Pflegeheimen gehalten haben und dabei meine ich nicht Kontrolle, sondern wirklich Rücksprache: „Welche Maßnahme wurde wo, wie wann und warum umgesetzt?“ Es war viel mehr eine Pauschalverurteilung und auch in der Wortwahl immer sehr anklagend. Kontakte geschehen oft nicht auf Augenhöhe. Das Pflegeheim wird angeklagt, also „überprüft“ und steht immer in der Position sich verteidigen zu müssen. Bei der Bewohnervertretung kommt es einem oft so vor, also ob ihr Leitsatz wäre „schauen wir wo wir einen Fehler finden, damit wir dann reagieren können“.  
Ein sehr guter Austausch wäre wünschenswert, ohne sich gegenseitig anzuklagen. Oft ist es so, dass es sich bei den überprüfenden Organen um Personen handelt, die auch gar nicht den beruflichen Hintergrund haben. Speziell in unserem Bereich sollte man schon ein gewisses Know-how haben im Kontakt im Miteinander-leben mit hochdementen Menschen und Dinge hinterfragen können.

Lebenswelt Heim: Wir vergleichen uns auch gerne mit anderen Ländern, wie z.B. mit Deutschland. Wie wird das dort gehandhabt? Ist Ihnen dazu etwas bekannt?

Gerhard Milcher: Ich durfte mir eine Zeit lang in Stuttgart bzw. in Berlin Institutionen ansehen und speziell in Stuttgart gibt es ein Pflegeheim, dass unserem sehr ähnlich ist. Dort wird es wie folgt gehandhabt:  Bevor ein Bewohner in das Pflegeheim einzieht, wird er von Sachverständigen, vom Gericht begutachtet und wenn festgestellt wird, dass dieser Bewohner die Leistungen eines Pflegeheimes braucht und dort einzieht, findet nach einem Jahr ein Treffen mit dem Richter, Pflegepersonen, Sachverständigen, Gutachtern statt, wo alles, was im vergangenen Jahr geschehen ist, besprochen wird und nur im äußersten Notfall wird auch der Bewohner hinzugezogen, um ihm diesen Stress zu ersparen. Es findet eine sehr gute Zusammenarbeit im Sinne des Bewohners statt. Auch Angehörige werden intensiv miteinbezogen und haben ein Anhörungsrecht. Im Gegensatz zu Deutschland wird bei uns die Meinung des Angehörigen oft nicht sehr wertgeschätzt bzw. gesagt: „ok, gut, aber das ist noch kein Beweis, dass dort alles gut ist.“

Lebenswelt Heim: Wo sehen Sie hier Verbesserungspotential?

Gerhard Milcher: Wünschenswert wäre ein Miteinander anstatt eines Gegeneinanders und ohne dieses Fehlersuchen bzw. aufdecken.

Lebenswelt Heim: Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?

Gerhard Milcher: Ich hoffe, dass die ganzen Systeme (Rechtsgeber, Politik, verschiedene Behörden, Gutachter) aufgrund der Pandemie dazulernen. Eine Plattform, wo man Informationen abrufen kann, die man in der momentanen Situation gerade braucht, wäre meiner Meinung nach, eine gute Idee. Welche Maßnahmen haben sich wo, wie wann bewährt? Und nicht, dass jemand im Nachhinein kommt und sagt: „So und so hätte man es auch machen können,“ oder „warum hast du das nicht so und so umgesetzt?“. Die Bewohnervertretung oder auch die Fachabteilung sollten eine Informationsdrehscheibe werden, nicht nur mit erhobenem Zeigefinger dastehen.

Lebenswelt Heim: Welche Maßnahme würden Sie mit dem Wissen von heute am Beginn der Pandemie nicht mehr treffen und welche auf jeden Fall wieder?

Gerhard Milcher: Ich würde die distanzierten Kontakte, speziell zu unseren hochdementen Bewohner*innen nicht mehr so rigoros unterbinden, denn gerade im Demenzbereich habe ich festgestellt, dass die Menschen extrem sensibel sind. Gerade durch die Medien wurden auch große Ängste bei den Bewohner*innen geschürt und Gefühle wie Angst bleiben hängen. Deshalb würde ich hier mehr Kontakte ermöglichen, ohne zu große Angst zu haben, dass sich jemand ansteckt.
Gleichzeitig würde ich manche Maßnahmen noch rigider durchführen: Den Gesundheitscheck bei den Mitarbeiter*innen hätte man schon viel früher durchführen können. Wobei mir aber auch bewusst ist, dass dieser kein Garant für gesunde Mitarbeiter*innen ist. (Dient zur Beruhigung der MA…)
Man muss schauen, dass man BewohnerInnen, Angehörigen und Mitarbeiter*innen in das Dreieck bringt, wo man sich noch besser schützen kann und Besuche und Kontakte jederzeit möglich sind.
Und die Maßnahme, die ich auf jeden Fall sofort wieder so umsetzten würde, ist Information, Information, Information – sowohl Mitarbeiter*innen als auch Angehörigen gegenüber.

Lebenswelt Heim: Vielen herzlichen Dank für das interessante Interview.

 

Gabriele Tupy
imzusammenspiel kommunikationsmanagement
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

DRUCK/PDF

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.