von Irmtraud Ehrenmüller und Rainer Hasenauer

Innovationen und die Sozialwirtschaft scheinen noch keine „guten Freunde“ zu sein,

insbesondere, wenn es um die Frage der entsprechenden Investitionen geht (Schöttler, 2016).

Tatsächlich wird aber der Bedarf an wirksamen digitalen Assistenzsystemen deutlich artikuliert (Riedler et.al., 2019). Die Erfahrungen aus der Covid-19 Krise weisen ebenfalls auf den Bedarf digitaler Assistenzsysteme in der Pflege hin (vgl. Lötzerich-Bernhard, 2020). Eine wissenschaftlich anerkannte Methode, wirksame Innovationen, gerade auch im Kontext von digitalen Systemen und künstlicher Intelligenz, zu entwickeln und hinsichtlich ihrer sozialen Akzeptanz und ethischen Verträglichkeit zu testen, sind „Living-Labs“, die aber im Sozialbereich noch nicht die Anwendung finden, die den Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben, entspricht. Dieser Artikel gibt einen Einblick die Möglichkeiten eines Living-Labs im Sozialbereich.

Was ist ein „Living Lab“?
Ein Living Lab ist eine sozialexperimentelle Methode, die einem neuen Forschungsparadigma entspringt und einige grundlegende paradigmatische Ansätze pragmatisch zusammenführt:

  • Es ist ein benutzerzentrierter multidisziplinärer Forschungsansatz,
  • der eine multidisziplinäre Kommunikation erfordert, (Hasenauer R. et.al. 2013)
  • einen auf einer Personengruppe begründeten Innovationsansatz verfolgt (CBI – Community Based Innovation, Hasenauer R., 2009) als Unterform von Open Innovation und
  • unter realen Lebensbedingungen das Forschungsziel experimentell bearbeitet.


Dabei ist der besondere Nutzen eines Living Labs, dass die geplanten technologischen Lösungen direkt im realen Einsatzbereich mit den Anwendern und Nutzern entwickelt werden. Ein Living Lab stellt daher keine künstliche Laborsituation dar, sondern findet sich im realen Leben wieder, z.B. in einem Wohnbereich eines Pflegeheims.  Ein spezieller Aspekt, der vor allem im Sozialbereich besondere Relevanz hat, ist die ausdrückliche Berücksichtigung ethischer Aspekte im Forschungsdesign der innovativen Lösungen (vgl. Hasenauer et.al, 2019). Belviso hält dazu fest, dass “trotz des wachsenden öffentlichen und privaten Interesses in Living Labs das Fehlen von ethischen Leitlinien für deren Design, Entwicklung und Implementierung zu bemängeln ist“ (Belviso in: Hasenauer et al., 2020). Unter expliziter Beachtung der bereits am Markt befindlichen und in den Labors für digitale Technologien in Entwicklung stehenden Assistenzsystemen stellt der methodische Ansatz des Living-Lab eine humanzentrierte, sozial verträgliche und ethisch wertvolle experimentelle Methode dar. Von besonderem Interesse ist den Autoren dabei der primäre Fokus auf die Bedürfnisse des betreuenden Personals, damit diese in ihrer „empathischen“ Arbeit im direkten Kontakt mit den zu betreuenden Menschen bestmöglich unterstützt werden (vgl. Kriegel et.al., 2019).

Welche Partner kooperieren in einem „Living-Lab“?
Die Planung und Durchführung eines Living-Labs bedarf kompetenter Partner, an die spezielle Anforderungen gestellt werden. Wir erläutern in diesem Artikel die Anforderungen an Living Lab-Partner anhand eines fiktiven, aber möglichen, konkreten Umfelds:

Forschungsziel ist die Entwicklung und der wirksame Einsatz eines „social assistive robots“, kurz: „CareSAR“, der den bestehenden und durch Faktenevidenz nachgewiesenen Engpass von Pflege- und Betreuungspersonal (vgl. z.B. Rappold/Juraszovich, 2019; Schneiders/Schönauer, 2020) entschärfen und gleichzeitig die normgerechte Pflegequalität in der stationären Langzeitpflege sichern soll. Dabei soll auf vorhandene technologische Entwicklungen und Basissysteme zurückgegriffen werden, d.h. es soll vorhandene Technologie für den konkreten Einsatz in einem Pflegeheim weiterentwickelt und effektiv angepasst werden. Besonders wichtig ist der effektive Nutzen aus der Sicht der Betreuungs- und Pflegekräfte sowie die Wahrung ethischer Grundsätze für alle beteiligten Personen. Die Wirksamkeit von Unterstützungsleistungen soll in einem Wohnbereich entwickelt und evaluiert werden.

Um in diesem Umfeld ein Living Lab zu errichten und zu betreiben braucht es kompetente Partner, denen unterschiedliche Rollen und Aufgaben zugeordnet sind:

  • Die Living-Lab-Einrichtung, in diesem Beispiel ein Pflegeheim, bringt insbesondere diese Aufgaben in das Projekt ein:
  1. Mitarbeit bei der Ausarbeitung des Projektplans inkl. Freigabe des konkreten Forschungs- und Entwicklungsziels
  2. Freistellen von Fachpersonal im Ausmaß der definierten Aufgabenpakete
  3. Teilnahme an Schulungen für die Durchführung des Living Labs
  4. Anleitung des beteiligten Fachpersonals sicherstellen
  5. Beobachtungen, Protokolle und Dokumentationen entsprechend der Vorgaben durch das Projektmanagement führen und umsetzen
  • Projektmanagement
  1. Planung, Leitung und Anleitung des Living Lab
  2. Koordination der Projektpartner
  3. Integration und Bearbeitung relevanter Fragestellungen wie rechtliche Rahmenbedingungen, Projektkommunikation, Risikomanagement,
  • Technologie- und Entwicklungspartner
  1. Stellt die technologische Basis zu Verfügung
  2. Stellt Ressourcen für die technologische Weiterentwicklung und Adaption zur Verfügung
  • IT- und Facility Management
  1. Stellt die Einbindung des Forschungstools an die bestehende Infrastruktur sicher
  • Wissenschaftliche Begleitung
  1. Stellt das empirische Forschungsdesign sicher, insbesondere auch die Beachtung der ethischen Grundregeln für digitale Assistenzsysteme in der Pflege und Betreuung.
  2. Stellt die wissenschaftlich korrekte Aufbereitung und Verwertung der erhobenen Daten und Informationen sicher.
  3. Wertet die Ergebnisse aus, wobei insbesondere wiederum die ethischen Fragestellungen zu beachten sich (s. dazu Belviso, 2017)
  • Finanzierungspartner
  1. Die benötigten finanziellen Mittel sowie eine allfällige kommerzielle Verwertung bei erfolgreichen Projektverlauf werden vor Projektstart ermittelt und vereinbart.

Ob eine Einrichtung geeignet ist, als Living Lab Partner zur Verfügung zu stehen, kann anhand einiger vorbereitender Fragen abgeklärt werden; insbesondere müssen dem konkreten Entwicklungsziel entsprechend diese Rahmenbedingungen abgestimmt sein:

  • Bauliche Gegebenheiten müssen für das Testobjekt geeignet sein; bei assistiven Transportsystemen sind dies z.B. barriere- bzw. schwellenfreie Gänge, ausreichende Durchgangsbreiten, etc.
  • Technische Rahmenbedingen müssen verfügbar sein, z.B. WLAN im gesamten Living-Lab-Bereich, unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV).
  • Die bestehenden Arbeitsprozesse müssen wohl definiert sein.
  • Kommunikation mit allen Stakeholdern wie z.B. Angehörige, Behörden, Mitarbeiter*innen muss vorbereitet sein.
  • Rechtliche Fragestellungen müssen geklärt sein (z. B. Datenschutz, Haftungen, berufsspezifische und ethische Rahmenbedingungen).


Welche digitalen Assistenzsysteme sollen in Living-Labs im Pflegebereich entwickelt werden?
Das Thema „Digitalisierung und Pflege“ ist keineswegs neu und genießt auch politisch mittlerweile einen hohen Stellenwert1.  Es besteht auch kein Mangel an Forschungen und Entwicklungen digitaler Assistenzsysteme. Living Labs gewinnen aber dort an Bedeutung, wo die konkrete Fragestellung einer technologischen Entwicklung ausdrücklich auf die Bedürfnisse jener Menschen ausgerichtet ist, denen das Entwicklungsprojekt spürbar nützen soll. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass nicht die Technologie vorgibt, wie der Mensch zu arbeiten hat, sondern der Mensch artikulieren soll, womit ihm am meisten geholfen wäre und diese Fragestellung dann zum Forschungsthema im Living-Lab erhoben wird. Die stationäre Langzeitpflege bietet sich insofern an, als in dieser Umgebung vergleichbare, wohl definierte Prozesse bestehen und damit spezifische Entwicklungen eine weite Verbreitung finden können. Eine Ausweitung der Entwicklung auf mobile Pflegestrukturen im häuslichen Umfeld soll dadurch nicht ausgeschlossen werden, allerdings stellen derartige Strukturen weit höhere Anforderungen und damit auch höheren Finanzierungsbedarf an ein Living Lab. Allerdings wäre in Folge der Wirkungs- und Wertschöpfungsgrad2  beachtlich, da ein Großteil der zu betreuenden Personen im häuslichen Umfeld lebt und damit die Unterstützung mobiler Pflege- und Betreuungskräfte einen hohen Wirkungsgrad haben würde („mobil vor stationär“ als Leitgedanke für den Ausbau von Pflegestrukturen).

Abschließende Bemerkungen
Ein Living-Lab ist eine erprobte, aber im Sozialbereich noch relativ selten genutzte empirische Forschungsmethode, die einen Weg zur Entwicklung effektiver digitaler Assistenz im Sozialbereich darstellt. Dabei werden vier Aspekte berücksichtigt, die für die Entwicklung effektiver digitaler Assistenz verfolgt werden sollen:


Abb. 1: Vier Aspekte bei der Entwicklung effektiver digitaler Assistenz


Ein Living-Lab muss von einem professionellen Projektmanagement angeleitet werden; die Durchführung wird von Fachexperten insbesondere aus den Bereichen IT, Facility Management und wissenschaftlichen Mitarbeitern begleitet. Die Finanzierung der für das Living Lab gewidmeten und tatsächlich benötigten Personalkapazitäten ist Teil der Projektfinanzierung und wird vor Durchführung des Living Labs kalkuliert und vereinbart.

Die Laufzeit eines Living-Labs hängt von der konkreten Fragestellung ab; im Regelfall bewegt sich die Laufzeit vor Ort zwischen 3 und 5 Jahren.

Nach der definierten Laufzeit wird das Ergebnis des Living-Labs umfassend systemisch ausgewertet.

Nach Abschluss des Living Labs löst sich das Konsortium im Regelfall auf; die Ergebnisse wurden im Idealfall schrittweise nach Freigabe durch die Qualitätssicherung in den Echtbetrieb übernommen und stehen einer kommerziellen Markteinführung zur Verfügung.

_____________

1Siehe z.B. die Pressekonferenz von Bundeskanzler Sebastian Kurz vom 28.8.2020
2vgl. dazu die Ausführungen bei Prinz, 2020

 


Quellenangaben
•    Belviso, Carlotta. 2017.  Socially Assistive Robots: A pre-adoption Study through Agent-Based Modelling. Masterarbeit, WU Wien.
•    Hasenauer, R., Ehrenmüller, I., Belviso, C.: „Living Labs in Social Service Institutions: An effective method to improve the ethical, reliable use of digital assistive robots to support social services”. PICMET 2021, paper submitted 28. August 2020 (eingereicht)
•    Hasenauer, R., Filo, P., Störi,H.: “The Marketing of High-Tech Innovation: Research and Teaching as a Multidisciplinary Communication Task” in: IJMBS, Vol.1, No 1/1 (special edition) April 2013, pp. 43-51
•    Hasenauer R., “Community Based Innovation and Cross Industry Technology Acceptance”, Int. Conference on “New trends in Marketing”, 3./4. Nov. 2009, Smolenice, Cyril&Method University of Trnava, Slowakei.
•    Hasenauer, R., Belviso, C.  Ehrenmüller, I: „New Efficiency: Introducing Social Assistive Robots in Social Eldercare Organizations” in: 2019 IEEE International Symposium on Innovation and Entrepreneurship (TEMS-ISIE), Hangzhou/China 22.-24.Oct 2019
•    Kriegel J, Grabner V, Tuttle-Weidinger L, Ehrenmüller I: Socially Assistive Robots (SAR) in In-Patient Care for the Elderly. In: Hayn, D. et al. (Hrsg.) dHealth 2019 – From eHealth to dHealth. Proceedings of dHealth2019, Vienna, Stud Health Tech Inform, 2019, 178-185.
•    Lötzerich-Bernhard, Kerstin: „In Zeiten von Corona liegt der Mehrwert von Telepräsenzrobotern auf der Hand“, in: https://www.caretrialog.de/author/loetzerich-bernhard.
•    Prinz, Thomas. 2020. Wirkungsorientiertes Stakeholder-Management in sozialwirtschaftlichen Unternehmen. Vortrag. INAS Kongress: Bern. 12.-14. Februar 2020. https://www.bfh.ch/soziale-arbeit/de/aktuell/news/rueckblick-inas/
•    Rappold, Elisabeth und Juraszovich, Brigitte: 2019. Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich (Kurzfassung). Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz: Wien
•    Riedel, Monika und Kraus, Markus und Fößleitner, Sophie. 2019: Finanzierung der Langzeitpflege unter Berücksichtigung europäischer Finanzierungsmodelle und die Rolle von Prävention. IHS – Institut für höhere Studien: Wien
•    Schöttler, Roland. 2016. Innovation in der Sozialwirtschaft. Lecture based on a thesis (not published)
•    Schneiders, Katrin und Schönauer, Anna-Lena. 2020. Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft - Empirische Befunde zu Ursachen und Handlungsbedarfen. Vortrag. INAS Kongress: Bern. 12.-14. Februar 2020. https://www.bfh.ch/soziale-arbeit/de/aktuell/news/rueckblick-inas/


Die Autoren:

 

Dr. Irmtraud Ehrenmüller ist seit 2019 FH-Professorin für Organisation und Prozessmanagement an der Fachhochschule Oberösterreich, Department Gesundheits-, Sozial- und Public Management. Davor war die promovierte Betriebswirtin viele Jahre in leitenden Funktionen im Gesundheits- und Sozialbereich tätig. Zwischen 2005 und 2019 hat sie als Geschäftsführerin eines Krankenhauses für Akutgeriatrie und eines Trägers von vier Pflegeheimen tiefgreifende Strukturentwicklungen zur Standort- und Qualitätssicherung der Betriebe geleitet und verantwortet.



 

Hon. Prof. Dr. Rainer Hasenauer ist seit 1993 Honorarprofessor mit akademischer Lehrbefugnis für Technologiemarketing und High-Tech Marketing am Department für Marketing der Wirtschaftsuniversität in Wien mit Schwerpunkt innovative Technologien in B2B Märkten. Er ist Unternehmensgründer und Business Angel, Mitglied des Aufsichtsrates eines führenden Unternehmens für sicherheitskritische Kommunikation, Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Fachbeiräte  für industrielle und öffentliche Institutionen, Mitglied von IEEE und TEMS.

 

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