Artikelbild Gesellschaft – quo vadis

von Irmtraud Ehrenmüller

Die Paradoxie der alternden Gesellschaft und wie wir sie nützen können

„Seit Jahresbeginn leben mehr Seniorinnen und Senioren über 65 Jahren als Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren in Österreich“1 [1]. Diese seit langem bekannte Realität liest sich häufig wie eine Drohung; in dem zitierten Artikel wird von Seniorenbund-Präsidentin Ingrid Korosec richtig gestellt: „Wir leben nicht nur länger, sondern auch gesünder“.
Diesen beiden Darstellungen ein und desselben statistischen Sachverhalts soll daher ein wenig auf den Grund gegangen werden – nicht zuletzt deshalb, da aus einseitigen Interpretationen fatale Fehlentwicklungen abgeleitet werden könnten oder umgekehrt gesellschaftliche Chancen ungenutzt bleiben.


1    „Alterung der Gesellschaft“
Betrachtet man die sogenannten „Bevölkerungs-Pyramiden“ wirtschaftlich hoch entwickelter Länder wie Österreich, so sieht man, dass die Pyramidenform längst ausgedient hat: die Kurven ähneln vielmehr einer „Venus“:

 
Abb.1.: Bevölkerungs-Venus; aus: [2]
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1Zahlen der Statistik Austria, zitiert von Johanna Hager im „Kurier“, 8.4.2021


Während allerdings die Kurve – egal, wie man sie nennt – faktenbasiert ist, wird die Interpretation dazu im Regelfall im Sinne einer Wertung abgegeben. Menschen über 65 Jahren werden pauschal als „Seniorinnen und Senioren“ bezeichnet (s. Zitat oben) oder man liest von der ÜBERalterung der Gesellschaft, die impliziert, dass wir als Gesellschaft „zu alt“ sind.
Alterung der Gesellschaft wäre ebenso eine sachlich neutrale Darstellung wie die Feststellung, wie sich die Altersverteilung der in Österreich lebenden Menschen darstellt. Mit den üblichen Wertungen wird allerdings ein Bild produziert, das sich mit diesen Worten beschreiben lässt: „Wenn man in Pension geht, ist man alt und alte Menschen sind ein Problem, insbesondere wegen ihres Pflegebedarfs.“

2    Medizinischer Fortschritt

Nicht erst seit der Impfstrategie gegen Covid-19, die als erstes die ältesten und gefährdetsten Mitglieder der Gesellschaft schützen sollte, sind die Errungenschaften der Medizin auf ein Ziel ausgelegt: die Leben möglichst vieler Menschen so lange als medizinisch irgendwie möglich zu erhalten. Mit der logischen, gewünschten Folge: die Menschen sollen länger leben als sie ohne medizinische Eingriffe leben würden. Länger leben heißt aber auch älter werden. Die Bevölkerungs-„Venus“ macht deutlich, dass dieses Ziel über die Jahre immer besser erreicht wurde und die Lebenserwartung kontinuierlich steigt.

Doch dann kam die Covid-19-Pandemie und unmittelbar mit ihr verbunden wurde eine weitere „Schreckensnachricht“ publik: die Lebenserwartung ist im Pandemie-Jahr 2020 erstmals seit den 1960-er Jahren wieder gesunken [3]. Erstens ist diese Aussage nicht ganz korrekt, da die Lebenserwartung in westlichen Ländern schon seit 2015 sinkt, allerdings im Jahr 2020 einen etwas deutlicheren Verlauf genommen hat [4], [5]; zweitens zeigt das Thema auf, dass uns die stetig steigende Lebenserwartung heilig ist – solange wir nicht alt sind!


3    Die Paradoxie der alternden Gesellschaft

Wenn wir diese beiden Thesen übereinanderlegen, ist die Paradoxie offensichtlich: zuerst setzen wir als (globale) Gesellschaft immense Ressourcen dafür ein, dass wir lange leben und möglichst alle Krankheiten heilen oder zumindest behandeln können; wenn wir als Gesellschaft dieses Ziel erreicht haben, sehen wir darin vor allem Probleme: wir ÜBERaltern, uns fehlen die Jungen, der Bedarf an Pflege steigt, wir können die Pflege nicht finanzieren, …

Es ist also an der Zeit, diese Paradoxie aufzulösen, und damit den Blick auf Chancen und Lösungen freizumachen.


4    Fakten und Chancen der älter werdenden Gesellschaft

4.1    Generation der langen selbständigen Lebenszeit

Betrachtet man die Bevölkerungs-Venus erkennt man, dass die „vielen alten Menschen“ nicht in erster Linie daraus resultieren, dass die Menschen nur älter werden als früher, sondern dass es vor allem die geburtenstarken Jahrgänge nach dem Krieg sind, die derzeit den „Wohlstandsbauch“ der Venus ausmachen und daher viele in den nächsten 20 Jahren in das Alter 75+ gelangen werden. Damit wird aber ein Phänomen deutlich, das historisch gesehen einmalig ist:

Noch nie gab es in der Geschichte eine Generation, die so viele in Selbständigkeit gelebte Lebensjahre aufweisen konnte wie die heutigen Gesellschaften! Wir sind also viele Menschen, die viel Lebenszeit haben.

Dies ist die unmittelbare Konsequenz unserer steigenden Lebenserwartung bei guter Gesundheit. Damit können wir als einzelne Person, aber auch als Gesellschaft etwas bewirken: einerseits ist jede*r einzelne lange Zeit Konsument von Waren und Dienstleistungen, andererseits kann diese Lebenszeit wiederum in die Gesellschaft z.B. in Form von bezahlter oder unbezahlter Leistungszeit reinvestiert werden, sofern die Bindung an eine Erwerbstätigkeit beendet ist und keine unmittelbaren zeitintensiven Verpflichtungen im familiären Kontext bestehen. Der sinnvolle Einsatz der zur Disposition stehenden freien Lebenszeit ist eine individuelle und kollektive Chance für die Zukunft unserer Gesellschaft, die es zu organisieren gilt.

4.2    Expansion vs. Kompression der Morbidität

Wesentlich für die Interpretation, welche Bedeutung der älter werdenden Gesellschaft hinsichtlich Pflegebedarf hat, ist die Frage ob bei steigender Lebenserwartung mit einer Expansion oder Kompression der Morbidität zu rechnen ist.

Während man bei der „Expansion der Morbidität“ davon ausgeht, dass die Erhöhung der Lebenserwartung auch die Dauer des Pflegebedarfs erhöht, bedeutet die „Kompression der Morbidität“, dass der individuelle Pflegebedarf bei höherer Lebenserwartung später einsetzt und daher nicht länger dauert, bei optimaler Gesundheitsvorsorge sogar verkürzt werden kann (vgl. [6], S. 7f). Die Frage, ob wir von einer Expansion oder Kompression der Morbidität ausgehen können, ist in der Literatur zwar nicht eindeutig beantwortet, allerdings gibt es Hinweise, dass präventive Gesundheitsmaßnahmen sowie höherer sozio-ökonomischer Status die Kompressions-Theorie unterstützen (siehe z.B. [7]).

In diesem Zusammenhang sind daher jedenfalls geänderte Schwerpunktsetzungen von gesundheits- und sozialpolitischen Schwerpunkten zu reflektieren: wenn Gesundheitsprävention den späteren Pflegebedarf komprimiert, kann man die entsprechenden Ressourcen neu allokieren, um den optimalen gesellschaftlichen „Impact“ (= Wirkung und Nutzen) zu erzielen.

Ebenfalls sollte die Grenze zwischen Gesundheitsleistung und Pflegeleistung durchlässig gestalten werden, da Investitionen in einem Bereich zu positiven Effekten im jeweils anderen Bereich führen können.

4.3    Gesunde Lebenserwartung

Die Lebenserwartung in Österreich ist zwar in den letzten Jahren gestiegen und liegt mit 81,7 Jahren (2017) über dem EU-Durchschnitt, jedoch verbringen Österreicher mit durchschnittlich 57 behinderungsfreien Lebensjahren weniger Zeit ihres Lebens bei guter Gesundheit als in vielen anderen EU-Ländern (Durchschnitt 64 Jahre) ([8], S. 5f und S. 22).

 
Abb. 2: Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren, aus: [8], S. 6

Dies dämpft die Möglichkeiten, die wir als Gesellschaft durch die steigende Lebenserwartung haben, ist aber gleichzeitig ein Faktum, das sich mit präventiven Maßnahmen positive beeinflussen lässt. Allerdings ist dabei anzumerken, dass 83% der Personen ab 65 Jahren keine Einschränkungen bei Alltagsaktivitäten melden, was knapp mehr als im EU-Vergleich ist ([8], S. 6).

Die Erhöhung der gesunden Lebenserwartung kann als gesellschaftlicher Mehrwert genutzt werden, für den zwar Kosten für die präventive Gesundheitsförderung eingesetzt werden müssen, im Zeitstrahl der Lebenserwartung aber längere selbständige Lebenszeit und damit Lebensqualität zur Folge hat.

4.4    Gesellschaftliche Akzeptanz der geänderten Fakten

Als Gesellschaft können wir die geänderten Fakten, die in diesem Aufsatz als „Paradoxie des Alterns“ dargestellt werden, dann positiv nützen, wenn die Individuen der Gesellschaft erkennen und akzeptieren, dass das „Älter werden“ nicht nur individuell gewünscht sondern auch gesellschaftlich nützlich ist. Junge wie alte Menschen, „digital natives“ wie „analog lebenserfahrene“ Personen bilden die Gesellschaft und könnten sich in jeder Lebensphase gegenseitig nützen und unterstützen. Voraussetzung ist, dass das Potential jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft gesehen wird und nicht das Defizit.

Dazu zwei Gedankenspiele, wie wir neu denken könnten:
1.    Wenn junge Menschen meinen, sie wollen nicht die Pensionen der Baby-Boomer zahlen, ist das zwar eine vordergründig verständliche Aussage, der jedoch ein Perspektivenwechsel zur Seite gestellt werden kann: Baby-Boomer könnten sich ihre Pension selber zahlen, wenn sie nicht ihr Berufsleben lang für Bildung, Kinderbeihilfe etc. der Jungen aufgekommen wären.
2.    Wenn wir sagen, „die Jugend ist unsere Zukunft“ und daher mit Sorge auf die alternde Gesellschaft blicken, lässt sich die Perspektive wechseln indem wir dem zur Seite stellen: „die Erwachsenen sichern die Zukunft der Jungen“, denn diese sind als Konsumenten und Dienstleistungsempfänger quasi „Arbeit-Geber“ für weite Teile der erwerbstätigen jüngeren Generation.

Diese Beispiele für einen Perspektivenwechsel lassen sich beliebig ergänzen, ohne dass man damit Fakten „schönredet“, sondern indem man diese Fakten mit einer für die Gesellschaft nützlichen Konnotation hinterlegt und daraus allgemein nützliche Möglichkeiten für die Zukunft der Gesellschaft erkennen kann.


5    Conclusio, oder: was können wir tun?

Gehen wir zurück zu dem eingangs zitierten Artikel, in dem Ingrid Korosec zu den Chancen, welche die ältere Generation für die Gesellschaft bietet, Stellung nimmt: aus den theoretischen Chancen, die sich aus den demografisch bedingten strukturellen Veränderungen ergeben, lassen sich innovative Themen und Projekte ableiten, die allen nützen; drei beispielhafte Themenkreise sind hier angeführt:

5.1    Bewusstseinsbildung

Diese Maßnahmen sind auf hoher politischer Ebene zu verorten, wie z.B. meinungsbildende Kampagnen, die die Chancen unserer demografischen Gesellschaftsstruktur zum Inhalt haben, aber auch gesundheitspolitische Schwerpunktsetzungen, die auf eine Ausweitung präventiver Maßnahmen zur Erhöhung der gesunden Lebensjahre und Kompression der Morbidität abzielt.

5.2    Integration der Lebensphasen

Es können Projekte verstärkt unterstützt werden, die auf die Integration älterer, auch bereits pensionierter, Menschen in sinnvolle, machbare Leistungsprozesse abzielen . Damit erhält sich einerseits die Gesellschaft wertvolle Lebenserfahrung, andererseits kann für ältere Menschen ein neuer Sinn im Leben angeboten werden, der vielen nach dem Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit abgeht und in Folge gesundheitliche Belastungen auslöst.

5.3    „Digitale Lösungen für analoge Herausforderungen“

Für viele ältere Menschen reichen einfache Unterstützungen, um in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens lange selbständig zu bleiben. Allerdings sind viele Hilfsmittel nur mit ausgeprägtem digitalen Verständnis wirklich nützlich. Die gezielte Entwicklung digitaler Hilfsmittel, die mit analog geprägter Intuition einsetzbar sind, kann diesen Brückenschlag zwischen der analogen und digitalen Generation unterstützen.

Wir alle gewinnen jedenfalls dann, wenn wir die Fakten der demografischen Entwicklung als Gesellschaft wertfrei akzeptieren und innovative Ideen zulassen, die sich daraus zum Nutzen aller entwickeln lassen.

6    Quellenangaben

[1]    https://kurier.at/politik/inland/seniorenbund-praesidentin-ueber-das-wirtschaftswunder-alte/401343690 (2021)
[2]    https://www.fh-ooe.at/fileadmin/user_upload/linz/studiengaenge/bachelor/sozial-und-verwaltungsmanagement/forum-sozialmanagement/2020/docs/Keynote_Ehrenm%C3%BCller.pdf (2020)
[3]    https://www.finanzen.at/nachrichten/aktien/corona-krise-lebenserwartung-sinkt-in-fast-allen-eu-staaten-1030281980 (2021)
[4]    https://www.faz.net/aktuell/wissen/der-grund-fuer-die-gesunkene-lebenserwartung-in-westlichen-laendern-15741064.html (2021)
[5]    https://www.oeaw.ac.at/detail/news/covid-verringert-lebenserwartung-stiehlt-aber-keine-lebensjahre (2021)
[6]    Stroblberger, M., Grillich, L., Gartlehner, G. (keine Jahresangabe): Evidenzrecherche zur These der „Kompression der Morbidität“, Donau-Universität Krems, Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie. http://www.donauuni.ac.at/imperia/md/content/department/evidenzbasierte_medizin/projekte/berichte/kompressi on_der_morbidit__t.pdf
[7]    Trachte, Sperlich, Geyer (2015): Kompression oder Expansion der Morbidität? In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 2/2015
[8]    OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2019), Österreich: Länderprofil Gesundheit 2019, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.
[9]    Mandel, Doris (2020): Das Arbeitskräftepotenzial von Frauen 55plus in oberösterreichischen Unternehmen: Arbeitsfähigkeit erhalten - bis zum Pensionsantrittsalter und darüber hinaus! ; Masterarbeit, FH OÖ.



FH-Prof. Mag. Dr. Irmtraud Ehrenmüller
lehrt seit 2019 Organisation, Qualitäts- und Prozessmanagement an der Fachhochschule Oberösterreich, Department Gesundheits-, Sozial- und Public Management. Davor war die promovierte Betriebswirtin viele Jahre in leitenden Funktionen im Gesundheits- und Sozialbereich tätig. Die Vermittlung von „Wissenschaft trifft Praxis“ ist Irmtraud Ehrenmüller in der Fachhochschullehre ein besonderes Anliegen.

Homepage: www.fh-ooe.at

 

 

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